Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da war, der da ist und der da kommt. Amen.
Liebe Schwestern und Brüder,
Nach Gott zu fragen – ist das heute überhaupt noch aktuell?
Wenn ich mich umschaue, scheint es, als hätten viele längst andere Quellen gefunden, wenn sie Rat, Trost oder Orientierung suchen.
Wenn ich eine Bestätigung brauche, eine Stimme, die mir Mut zuspricht, dann muss ich heute keine Bibel aufschlagen, keinen Gottesdienst besuchen, nicht einmal jemanden anrufen.
Ich öffne mein Handy, tippe meine Sorgen ein – und bekomme Antworten.
„ChatGPT, ich bin ausgelaugt, enttäuscht. Ich weiss nicht weiter. Was soll ich tun?“
Und schon antwortet mir eine Stimme, die freundlich klingt, verständnisvoll, geduldig:
„Ich verstehe das gut. Manchmal sind Zeiten der Erschöpfung wichtig, um zu wachsen…“
Und ich ertappe mich bei dem Gedanken: Wie wohltuend das klingt. Fast so, als hätte da jemand wirklich zugehört.
Vielleicht haben viele von Ihnen das schon ausprobiert – und gestaunt, was diese Programme können.
Es ist beeindruckend. Es ist faszinierend. Und zugleich: ein bisschen unheimlich.
Denn da ist etwas, das so tut, als würde es verstehen. Als würde es mich kennen.
Aber versteht es wirklich?
Oder spiegelt es nur das wider, was ich hören möchte?
Ich merke: Wir leben in einer Zeit, in der wir immer neue Werkzeuge schaffen, die uns das Leben leichter machen sollen – und die doch immer auch neue Fragen aufwerfen.
ABER Jedes System, in dem wir leben, und das wir verwenden, braucht kritische Reflexion.
Gerade im Oktober, wenn wir an die Reformation denken, werden wir daran erinnert:
„Prüft alles und behaltet das Gute.“ (1 Thess 5,22)
Die Reformatoren – Luther, Zwingli, Calvin – hatten ganz andere Werkzeuge als wir.
Aber sie stellten dieselbe Frage, die uns heute herausfordert:
Was macht einen lebendigen Glauben aus?
Wie kann der Mensch Verantwortung übernehmen – für sich und für die Welt um ihn herum?
Für Zwingli war das keine abstrakte Frage.
Seine Antwort zeigte sich in Taten: in der Fürsorge für die Armen und für die Weisen – zunächst in der Stadt Zürich, wo er Pfarrer war.
Die erste sichtbare Veränderung, die Zwingli mit seiner Kirchenreform bewirkte, war die Versorgung der Bedürftigen. Dadurch wurde Glaube sozial. Er wurde sichtbar im Miteinander.
Heute, fünfhundert Jahre später, sieht Armut anders aus, aber sie ist da.
Die Einsamkeit vielleicht sogar stärker als früher.
Und wir haben neue Mittel, um uns zu begegnen – oder um Begegnung zu vermeiden.
Bist du überfordert mit einem Problem am Arbeitsplatz? Frag schnell ChatGPT.
Bist du aufgeregt vor einem schwierigen Gespräch? Lass dir Sätze vorschlagen.
Brauchst du Trost oder eine biblische Ermutigung? ChatGPT findet sie in Sekunden.
Und vielleicht fühlen wir uns ermutigt, getröstet durch die Worte, die uns die Maschine widerspiegelt – aber wir spüren, da fehlt etwas. Da fehlt eine echte Begegnung, da ist vielleicht nur ein Selbstgespräch vorhanden, ergänzt mit unzähligen klugen Worten aus einem unerschöpflichen Sprach- und Wissensfundus. Es ist aber keine echte Begegnung… die Maschine und ihre Antworten sind berechenbar.
Ist das Leben überhaupt planbar, berechenbar?
Der Predigttext für heute, Psalm 115, spricht genau in diese Spannung hinein:
2 Warum sollen die Völker sagen: Wo ist denn ihr Gott? 3 Unser Gott ist im Himmel, er vollbringt, was ihm gefällt. 4 Ihre Götzen sind Silber und Gold, Machwerk von Menschenhand. 5 Sie haben einen Mund und sprechen nicht, haben Augen und sehen nicht. 6 Sie haben Ohren und hören nicht, haben eine Nase und riechen nicht. 7 Mit ihren Händen fühlen sie nicht, mit ihren Füssen gehen sie nicht, mit ihrer Kehle geben sie keinen Laut. 8 Ihnen werden gleich sein, die sie machen, jeder, der ihnen vertraut. 9 Israel, vertraue auf den HERRN. Er ist ihre Hilfe und ihr Schild. 10 Haus Aaron, vertraut auf den HERRN. Er ist ihre Hilfe und ihr Schild.
Diese Worte sind Jahrtausende alt – und doch klingen sie plötzlich erschreckend modern.
„Von Menschenhänden gemacht.“
Das war damals Holz, Stein, Metall – heute ist es Code, Algorithmus. Wir bauen uns Abbilder, die uns Sicherheit versprechen.
Maschinen, die rechnen, was das Leben nicht rechnen kann.
Früher stand ein geschnitztes Götzenbild im Tempel,
heute leuchtet ein Bildschirm in unserer Hand.
Und die Frage bleibt dieselbe:
Wann wird aus einem Werkzeug ein Götze?
Wann fängt der Mensch an, dem Werk seiner Hände mehr zu vertrauen als dem lebendigen Gott?
Wann wird Technik zu einem Ersatz für Beziehung, Verantwortung, Glauben?
Ich sage das nicht, um Technik zu verdammen.
Ich benutze sie ja selbst – mit grossem Respekt, manchmal auch mit Staunen.
Aber ich will mich fragen lassen:
Dient dieses Werkzeug dem Leben?
Fördert es Erkenntnis – oder betäubt es mein eigenes Denken?
Hält es meine Verantwortung wach – oder nimmt es sie mir ab?
Denn das ist ja das Wesen des Glaubens:
Er entlässt uns nicht aus der Verantwortung, sondern ruft uns hinein.
Wir wollen Berechenbarkeit – und verlieren das Vertrauen. Das Leben ist nicht berechenbar.
Es ist nicht steuerbar wie ein Programm, nicht vorhersehbar wie ein Algorithmus.
Wer glaubt, wagt sich in dieses Unberechenbare hinein.
Nicht, weil er die Kontrolle verliert,
sondern weil er darauf vertraut, dass Gott da ist, wo keine Berechnung mehr greift.
Glaube ist nicht die Flucht in eine geistliche Komfortzone. Glaube ist Mut.
Mut, die Unsicherheit auszuhalten.
Mut, sich dem Leben anzuvertrauen, auch wenn es bricht.
Mut, Gott zu vertrauen, auch wenn er schweigt.
Eine Maschine kennt keine Gnade, weil sie keine Grenzen kennt.
Der Mensch kennt Gnade gerade weil er seine Grenzen kennt.
Weil er merkt: Ich bin nicht allmächtig. Ich kann scheitern. Ich brauche Vergebung.
Das ist die Zumutung – und die Befreiung – des Glaubens.
Der Mensch ist im biblischen Sinn Ebenbild Gottes.
Nicht, weil er Maschinen erschaffen kann, sondern weil er zur Beziehung berufen ist –
zum Hören, zum Unterscheiden, zum Lieben.
Das Ebenbild Gottes trägt nicht das Gesicht des Wissens, sondern das Herz der Verantwortung.
Eine Maschine kann Wissen simulieren, aber keine Weisheit. Sie kann Empathie nachahmen, aber kein Mitgefühl empfinden. Sie kann alles wissen, aber sie kann nichts vergeben.
Denn sie kennt keine Schuld – und deshalb auch keine Gnade.
Ich glaube, genau darin liegt unsere Herausforderung heute. Wir leben in einer Zeit, die uns ununterbrochen suggeriert, dass alles berechenbar ist.
Dass für jedes Problem ein Tool, ein Algorithmus, eine Antwort existiert.
Aber das Leben – und erst recht der Glaube – ist nicht berechenbar.
Er ist Beziehung, Vertrauen, Risiko.
Zwingli wusste das, als er in Zürich nicht nur theologisch reformierte, sondern sozial.
Er verband Kirche und Stadt, Glauben und Handeln.
Er stellte die Frage:
Wie können wir in dieser Stadt so leben, dass niemand verloren geht?
Wie können wir eine Gemeinschaft schaffen, in der die Schwachen getragen werden?
Daraus entstand etwas, das bis heute nachwirkt:
Armenfürsorge, Waisenhäuser, Spitäler – die Grundlagen unseres modernen Sozialstaats.
Nicht, weil man Effizienz berechnen wollte,
sondern weil man glaubte, dass Nächstenliebe ein göttlicher Auftrag ist.
Wenn ich auf unsere Zeit schaue, spüre ich:
Diese Frage ist aktueller denn je.
Nach der Pandemie, in der Digitalisierung, in der Beschleunigung – überall da, wo echte Begegnung seltener wird, entdecken wir neu, wie wertvoll sie ist.
Ich erinnere mich an viele Gespräche in den letzten Jahren, in denen Menschen sagten:
„Ich habe gemerkt, wie sehr mir das fehlt – ein echtes Gespräch, ein Blick, eine Umarmung.“
Technologie kann vieles: Sie kann verbinden, erleichtern, informieren.
Aber sie ersetzt nicht die Wärme, das Verstehen, die Tiefe, die nur entsteht, wenn Menschen einander wirklich begegnen.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – das ist keine Theorie, sondern gelebte Praxis.
Sie braucht Zeit, Geduld, und manchmal auch Vergebung.
Aber sie ist der Ort, an dem Gott gegenwärtig wird – nicht in der Perfektion, sondern in der Beziehung.
Darum glaube ich:
Wir brauchen keine Angst vor künstlicher Intelligenz zu haben. Aber wir müssen wachsam bleiben.
Nicht aus Furcht, sondern aus Verantwortung.
Nicht, weil Technik böse wäre, sondern weil sie uns leicht verführt, unsere Freiheit abzugeben.
Wir dürfen uns erinnern lassen, dass Gott uns nicht als Maschinen geschaffen hat,
sondern als Menschen mit Herz, Seele und Gewissen.
Und dass Gnade etwas ist, das sich nicht berechnen lässt.
Am Ende ist nicht entscheidend, was eine Maschine sagen kann, sondern was wir als Menschen glauben, hoffen, lieben.
Ich wünsche mir, dass wir diesen Geist der Reformation auch heute leben:
dass wir prüfen, unterscheiden, und das Gute behalten.
Dass wir mutig fragen:
Dient das, was wir tun, dem Leben?
Führt es uns näher zu Gott – oder weiter weg?
Und dass wir, wenn wir Antwort suchen, nicht zuerst auf einen Bildschirm schauen,
sondern aufeinander – und in uns hinein.
Denn dort, im ehrlichen Miteinander, im Gebet, in der Stille, geschieht das, was keine künstliche Intelligenz kann:
Gnade.
Begegnung.
Neues Leben.
Darum, liebe Gemeinde:
Lasst uns nicht nach der Berechenbarkeit des Lebens streben, sondern nach seiner Tiefe.
Nicht nach Perfektion, sondern nach Vertrauen.
Nicht nach Kontrolle, sondern nach Mut.
Vielleicht ist das die eigentliche Reformation, die wir heute brauchen:
Nicht eine neue Theologie, sondern ein neuer Mut zum Unberechenbaren.
Mut, das Leben auszuhalten, so wie es ist – widersprüchlich, zerbrechlich, kostbar.
Denn in dieser Unsicherheit geschieht Gnade.
Gott ist nicht dort, wo alles glatt läuft.
Er ist dort, wo wir loslassen.
Wo wir nicht mehr wissen, wie es weitergeht – und trotzdem sagen:
„Ich vertraue dir.“
Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft –
auch höher als alle Berechnung –
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.