Heute stelle ich ihnen ein Lied in der Predigt vor. Das dritte von vier Gottesknechtsliedern. Die Melodie ist uns leider nicht überliefert. Beim Prophetenbuch Jesaja mit seinen 66. Kapiteln gibt es ab dem Kapitel 42 vier Lieder aus viel späterer Zeit. Sie sind also nicht von dem Propheten Jesaja geschrieben worden. Aber sagen wir mal die Leute waren inspiriert von dieser Gestalt.

Im ersten Lied, Kapitel 42, stellt GOTT selbst seinen Knecht, den Gottesknecht, vor.

Das zweite Lied singt der Knecht selbst und klagt, dass seine bisherige Tätigkeit als Prophet „für die Fische“ war. Bislang hat er sich „vergeblich, für nichts“ angestrengt. Daraufhin berichtet er von einer neuen Gottesrede, die an ihn erging: sollte er bislang Israel zu JHWH zurückführen, so ist seine Aufgabe nun ausgeweitet auf die ganze Völkerwelt. Er ist das „Licht der Völker“.

Und nun folgt das dritte Lied in Kapitel 50. Hier schildert der Gottesknecht uns seine besonderen Fähigkeiten, die er von GOTT für seinen Auftrag erhalten hat.

Das letzte und vierte Lied in Jesaja 52 und 53 ist eine Art Totgesang, Requiem, in der Menschen aus seiner Zeit nach dem Tod des Gottesknechts Bilanz ziehen.

Der dritte Song aus Jesaja 50, 4-11

Gott, der Herr, gibt mir die richtigen Worte, damit ich erschöpfte Menschen trösten und ihnen neuen Mut zusprechen kann. Er weckt mich alle Morgen mit dem Verlangen, von ihm zu lernen wie ein Schüler von seinem Lehrer. Ja, Gott, der Herr, hat mich bereitgemacht, auf ihn zu hören. Ich habe mich nicht gesträubt und bin meiner Aufgabe nicht ausgewichen. Meinen Rücken habe ich hingehalten, als man mich schlug; ich habe mich nicht gewehrt, als sie mir den Bart ausrissen. Ich hielt ihren Beschimpfungen stand und verdeckte mein Gesicht nicht, als sie mich anspuckten. Und doch konnten sie mir meine Würde nicht nehmen, denn Gott, der Herr, verteidigt mich. Darum habe ich auch die Kraft, ihnen die Stirn zu bieten. Ich weiß, ich werde nicht in Schimpf und Schande enden. Der Richter, der mich freisprechen wird, ist schon unterwegs. Wer will mir da noch den Prozess machen? Lasst uns nur vor Gericht gehen! Wer will mich anklagen? Soll er doch herkommen! Ja, Gott, der Herr, verteidigt mich! Wer kann mich da noch schuldig sprechen?

Alle meine Ankläger werden umkommen, sie vergehen wie ein Kleid, das die Motten zerfressen. Ihr Menschen, die ihr Ehrfurcht vor dem Herrn habt und auf die Worte seines Dieners hört, erschreckt nicht in dunklen Tagen! Verlasst euch auf den Herrn, auch wenn ihr nirgends einen Hoffnungsschimmer seht, denn er hält euch fest! Ihr anderen aber, die ihr ein Feuer schürt und euch mit Brandpfeilen rüstet – lauft hinein in euer eigenes Feuer. Eure glühenden Pfeile sollen euch selbst treffen! Der Herr spricht: »Eigenhändig stürze ich euch ins Unglück. Ihr werdet auf dem Boden liegen und euch vor Qual winden.«

Liebe Gemeinde! „Er weckt mich alle Morgen“ ist ein wunderbares Gedicht von Joachim Georg Wilhelm Klepper. Von wem werden Sie geweckt? Welcher Wecker läutet sie wach? Wer rüttelt und schüttelt Sie aus den Träumen? Vielleicht hüpft ihnen auch ein Hund auf den Bauch und wedelt mit dem Schwanz und schlabbert sie ab? Oder es schleicht sich eine Katze auf der Decke an sie heran und schnurrt Sie fröhlich in den Tag? Es ist doch schön geweckt zu werden, oder nicht? Mit einem Wort das neue Sonnenlicht zu begrüßen ist doch wirklich herrlich, sich zu strecken und zu recken, zu gähnen und den Tag auf sich zukommen lassen. Oder werden Sie eher unsanft durch Straßenlärm, das Bimmeln einer Straßenbahn, oder das Scheppern eines Müllfahrzeugs aus dem Schlaf gerissen? Mich hat seit einigen Jahren täglich bis zum 14. August Moni, Monika Liebert, mit einer WhatsApp-Nachricht am Morgen begrüßt. „Guten Morgen, lieber Harald!“ Und ich hab geantwortet: „Good morning, Moni!“

„Er weckt mich alle Morgen“, dichtet der Schriftsteller, Pfarrerssohn, Theologe und Journalist Jochen Klepper. Am 12. April 1938 hat er es zu Papier gebracht. Dabei hatte ihn der Text des Propheten Jesaja so sehr gepackt gehabt, dass er erst wieder aufstehen konnte, als er das Gedicht fertig hatte. Kleppers Tagebucheintrag vom 12. April 1938 ist das eben gelesene Bibelwort aus Jesaja 50 ebenfalls vorangestellt, und er schreibt weiter: „Weicher, glänzender Tag. Meine kleinen Osterbesorgungen für Mutter, Frau (Hanni) und Töchter (Renate und Brigitte).  In unserem alten Garten in der Seestraße blühen die alten Kirschbäume so schön.  […] Ich schrieb heute ein Morgenlied über Jesaja 50, 4.5.6.7.8, die Worte, die mir den ganzen Tag nicht aus dem Ohr gegangen waren.“ Jochen Klepper, Tagebuch 1938

Er hat es sich von der Seele schreiben müssen. Ihn und seine jüdische Frau Johanna und deren Kinder Brigitte und Renate trieb damals die Angst um, verhaftet und fortgebracht zu werden. Was wird der morgige Tag bringen, haben sie sich täglich gefragt, voller Furcht und Zittern. Denn rundherum wurden jüdische Freundinnen und Freunde verhaftet und deportiert. Brigitte konnte noch nach England fliehen. Jochen Klepper fühlte sich nun zusehend eingesperrt, bedrängt, in größter Gefahr. Man hat ihn in die Wehrmacht eingezogen und dann bald auch wieder „wehrunwürdig“ wegen seiner „nichtarischen“ Gattin aus dem Dienst entlassen. Man drohte dem Ehepaar mit der Zwangsscheidung. Das hätte zwangsläufig zur Deportation und Ermordung seiner lieben Frau Hanni und seiner Stieftochter Renate geführt. Jochen hat Jahre lang penibel Tagebuch geführt, sich darin alles von der Seele geschrieben und Zwiesprache mit Gott und dem Schicksal gehalten. Am 10. Dezember 1942 verfasst Jochen Klepper seinen letzten Tagebucheintrag. „Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott – Wir gehen heute Nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“ Jochen Klepper, Tagebuch

Die Familie weiß keinen Ausweg mehr angesichts der drohenden Zwangsscheidung und begeht an diesem Abend des 10. Dezember Suizid. Ich habe an letzten Donnerstag denken müssen. Da hat der von mir geschätzte ehemalige Lehrer und Autor Niki Glattauer seinem Leben ebenfalls selbstbestimmt ein Ende gesetzt. Glattauer hatte eine Ader und ein Sensorium schwierige Umstände ehrlich, offen und problemlösungsorientiert anzusprechen. Und ich konnte mich an vielen seiner Aussagen etwa zur Situation an den Schulen und in der Gesellschaft reiben. Bis zuletzt hat er mich zum Nachdenken gereizt. Auch mit seinem letzten Schritt ganz besonders. Sie haben es vielleicht mitverfolgt, denn Niki Glattauer hatte sich entschieden, seine letzten Stunden und Gedanken auch in einem Interview der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Er litt an einer unheilbaren fiesen Krebserkrankung und wollte sich dieser nicht geschlagen geben. Widerstand schien zwecklos. Deshalb gab er sein Todesdatum öffentlich bekannt – 4. September. Am letzten Abend davor hat er dann, wie es auf einer Facebook Seite heißt noch mit seiner Familie Karten gespielt, gescherzt, gelacht und sie haben den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Komme, was wolle.

Wie Hanni, wie Joachim, wie Renate, wie die Kleppers, hat Niki Glattauer keinen Ausweg mehr gesehen. Also einen Ausweg gibt es, wie er sagt. In welcher Situation muss man sich befinden, um nur noch diesen einen Weg gehen zu können? Wie gequält müssen sie sich gefühlt haben, wie erfüllt von Angst, vor Schmerzen, vor dem Verlust der Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit. „Meine Qual ist ausgetrunken.“ So hat Thomas Bernhard einmal einen absoluten Ausnahmezustand beschrieben. „Ich fürchte mich nicht mehr. Ich fürchte mich nicht mehr, was kommen wird. Mein Hunger ist ausgelöscht, meine Qual ist ausgetrunken, …“

„Er weckt mich alle Morgen.“ „Gott, der Herr, gibt mir die richtigen Worte, damit ich erschöpfte Menschen trösten und ihnen neuen Mut zusprechen kann.“ Manche haben einfach diese Gabe, dass sie Worte finden auch für die schlimmsten Situationen. Und wir leben in einer erschöpften Welt und suchen Trost, echten Trost, keine Vertröstungen. Aber wirklich schwierig ist es, Mutlosen Mut zu machen. Denn worauf soll sich der Mut gründen, wenn die Mutigsten, all jene, die ihre Stimmen gegen Unrecht und Ungerechtigkeiten und gegen den Wahn einer immer schnelleren und perfekteren und von künstlicher Unintelligenz erfüllten Welt unbeachtet bleiben.

GOTT will uns alle so wie ein Lehrer eine Lehrerin auf beste Art und Weise unterrichten. Wir sollen Lernende bleiben, nicht glauben, alles besser zu wissen, sondern uns berühren und leiten lassen. Wo finde ich Mitmenschlichkeit, Humanität, Nächstenliebe und wo kann ich sie verbreiten, anwenden. „Er weckt mich alle Morgen mit dem Verlangen, von ihm zu lernen wie ein Schüler von seinem Lehrer. Ja, Gott, der Herr, hat mich bereitgemacht, auf ihn zu hören. Ich habe mich nicht gesträubt und bin meiner Aufgabe nicht ausgewichen.“ Angeblich suchen die meisten Menschen heutzutage den leichten Weg zum Erfolg, zum Beruf, zu Beziehungen. Dabei ist der ebene und gefahrlose und problemlose Pfad zwar verlockend, aber wachsen wir nicht an Herausforderungen. Wir überspringen hohe Hürden nur dann, wen wir mit kleineren angefangen haben.

„Meinen Rücken habe ich hingehalten, als man mich schlug; ich habe mich nicht gewehrt, als sie mir den Bart ausrissen. Ich hielt ihren Beschimpfungen stand und verdeckte mein Gesicht nicht, als sie mich anspuckten. Und doch konnten sie mir meine Würde nicht nehmen, denn Gott, der Herr, verteidigt mich.“

Es gibt manche Berufe und auch Situationen, in denen Männer, Frauen und Kinder ganz schön viel durchstehen müssen. Niemand sucht sich aus, erniedrigt zu werden – außer man ist Masochist. Niemand sollte in die Enge getrieben werden und dann gedemütigt werden. Der Schmerz beim Ausreißen von Barthaaren oder auch Kopfhaaren vermischt sich hier mit dem Erleben von absolutem Ausgeliefertsein. Vollkommene Ohnmacht, die sich auch zeigt, wenn wir bespuckt, verlacht, verhöhnt werden.

Aber der Gottesknecht, diese sagenhafte Gestalt, die in den 4 Liedern bei Jesaja gezeichnet wird, bleibt in ihrem Stolz Herr der Lage, wie man sagt. Die Würde eines Menschen ist unantastbar, weil GOTT sich dazwischen stellt. GOTT verteidigt die Menschenwürde und wir sollten auch das unsrige tun, damit die Menschlichkeit gewahrt bleibt.

An zu vielen Stellen wird die Menschenwürde angegriffen. Wegen der politischen oder der sexuellen Orientierung oder wegen der Art, leben zu wollen, machen sich vermehrt auch in demokratischen Staaten Häme, Spott und Anfeindungen breit.

„Darum habe ich auch die Kraft, ihnen die Stirn zu bieten. Ich weiß, ich werde nicht in Schimpf und Schande enden. Der Richter, der mich freisprechen wird, ist schon unterwegs. Wer will mir da noch den Prozess machen? Lasst uns nur vor Gericht gehen! Wer will mich anklagen? Soll er doch herkommen! Ja, Gott, der Herr, verteidigt mich! Wer kann mich da noch schuldig sprechen?“

Nichts demonstriert die Selbstbestimmtheit und den Stolz mehr, als wenn man sagen kann und sich sagen traut: „Na los, mach schon, komm schon her! Du wirst schon sehen, was geschieht. Du kannst mich körperlich angreifen und mich auch psychisch unter Druck setzen. Aber GOTT verteidigt mich, schlussendlich. Alle meine Ankläger werden umkommen, sie vergehen wie ein Kleid, das die Motten zerfressen.“

Wie groß und mutig ist dieser Gedanke doch: Sie können mir gar nichts. Egal, wie sehr sie mich schinden, ich bleibe ich. „Ihr Menschen, die ihr Ehrfurcht vor dem Herrn habt und auf die Worte seines Dieners hört, erschreckt nicht in dunklen Tagen! Verlasst euch auf den Herrn, auch wenn ihr nirgends einen Hoffnungsschimmer seht, denn er hält euch fest!“ 

In Gottes Armen und Händen bleiben wir geborgen. Es müsste uns nichts erschrecken, also ein kleines bisschen vielleicht schon, aber dann sollte es gut sein. So dunkel es auch ist, und wir haben Kriege in der Welt, eine Aufrüstung, die Angst machen kann, gesellschaftliche und politische Entwicklungen, die eine freie Gesellschaft attackieren, Hungersnöte, fehlende medizinische Versorgungen und Machthaber, die sich darin gefallen, immer weniger zu tun, damit diese Welt ein schöner Ort bleibt.

Da sind viele, die mit dem Feuer spielen, es sogar schüren. „Ihr anderen aber, die ihr ein Feuer schürt und euch mit Brandpfeilen rüstet – lauft hinein in euer eigenes Feuer. Eure glühenden Pfeile sollen euch selbst treffen! Der Herr spricht: »Eigenhändig stürze ich euch ins Unglück. Ihr werdet auf dem Boden liegen und euch vor Qual winden.« Diese Rachephantasien für diejenigen, die sich gegen das Leben und die Freiheit stellen, sind doch gut nachvollziehbar. Auch Jochen Klepper wird sich hier gedacht haben: Guter Gott, mach den Nazis doch ein Ende! Guter Gott, mach dem Krieg in der Ukraine und dem in Israel und in Gaza doch ein Ende.

Manchmal denkt man, Gott müsste einem in all den Widerständen des Lebens ein Zeichen geben, das einem hilft. Aber dies ist eben das Zeichen: dass er einen durchhalten und es wagen und es dulden lässt.

aus Jochen Klepper, Tagebuch

So hat es Jochen Klepper für sich formuliert. GOTT lässt uns Menschen durch diesen Gottesknecht noch etwas ausrichten: „Ihr denkt, ich sei zu schwach, um euch zu helfen, mein Arm sei zu kurz, um euch zu befreien. Und doch brauche ich nur ein Wort zu sprechen, dann trocknet das Meer aus und die Ströme versiegen, sodass die Fische elend umkommen. Ich kann den Himmel schwarz werden lassen, als trüge er ein Trauerkleid.“ (Jesaja 50, 2-3)

„Er weckt mich alle Morgen“. Durchgängig wird hier von Angst, Klage, Zurückgehen, Gebrechen und Dunkelheit gesprochen. Das Lied will diese negativen Aussagen aufheben, aber die Negativität und der Pessimismus bleibt darum nicht weniger wirksam sind. Es ist das Morgenlied eines Bedrückten, Bedrängten, ein Lied, in dem das „Trotzdem“ durchgängig spürbar bleibt. GOTT ist täglich nahe und ruft uns in seinen Dienst.

Ohne Gott bin ich ein Fisch am Strand, ohne Gott ein Tropfen in der Glut, ohne Gott bin ich ein Gras im Sand und ein Vogel, dessen Schwinge ruht. Wenn mich Gott bei meinem Namen ruft, bin ich Wasser, Feuer, Erde, Luft.“ … ein Wirbelwind. aus Jochen Klepper, Tagebuch