Pfarrer Harald Kluge Youtube

Eines Tages kommen Jesus und seine Jüngerschar zu einem ebenen Platz. Hier hat sich eine große Anzahl weiterer Jünger versammelt und dazu noch eine riesige Menschenmenge. Die Leute sind aus dem ganzen Land gekommen, auch aus Jerusalem und aus den Hafenstädten Tyrus und Sidon. Sie wollen Jesus hören und von ihren Krankheiten geheilt werden. Alle versuchen, Jesus zu berühren; denn von ihm geht eine Kraft aus, die sie alle heilt, sagt man sich. 

»Seid barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist. Ihr sollt andere nicht verurteilen, dann wird Gott auch euch nicht verurteilen. Sitzt über niemanden zu Gericht, dann wird Gott auch über euch nicht zu Gericht sitzen. Vergebt anderen, dann wird Gott auch euch vergeben. Schenkt, dann wird Gott auch euch beschenken: Ein gutes Maß wird euch in den Schoß geschüttet – festgedrückt, geschüttelt und voll bis an den Rand. Denn der Maßstab, den ihr an andere anlegt, wird auch für euch gelten.« Jesus erzählte ihnen auch ein Gleichnis: »Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden sie nicht beide in die Grube fallen? Kein Jünger steht über seinem Lehrer. Auch wenn er fertig ausgebildet ist, ist er nur wie sein Lehrer. Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders oder deiner Schwester. Bemerkst du nicht den Balken in deinem eigenen Auge? Wie kannst du zu deinem Bruder oder zu deiner Schwester sagen: ›Komm her! Ich zieh dir den Splitter aus deinem Auge.‹ Siehst du nicht den Balken in deinem eigenen Auge? Du Scheinheiliger! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge! Dann hast du den Blick frei, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders oder deiner Schwester zu ziehen.« Lukas 6, 36-42

Liebe Gemeinde! „Kennen Sie den Weg zum nächsten Taxi-Standplatz?“ Wer, wie ich, versucht 20.000 Schritte am Tag zu machen, kommt unweigerlich in Kontakt mit Touristinnen und Touristen. Manchmal streift man sich bloß am Arm oder läuft sich ungewollt in die Arme. Manchmal muss man sich den Weg durch eine geschlossene Tourigruppe bahnen, die staunend vor einer Sehenswürdigkeit den Ausführungen ihres Guides lauscht. Gestern wurde ich auf meinem Weg gefragt, ob ich den nächstgelegenen Taxistand kenne. Nur war das nicht hier in der Gegend, sondern in der Argentinierstraße. Gewissermaßen haben hier zwei Unkundige aus Deutschland einen halbwegs unkundigen Wiener um Rat gefragt. Schwerer Fehler. Zuerst hab ich sie zum Radiokulturhaus schicken wollen, das aber doch geschlossen hat, und eben dort gibt es keinen Standplatz mehr. Dann dachte ich an die Prinz-Eugen-Straße und hab gemeint, dort auf Höhe des Eingangs zum Belvedere sei einer. Ich habe sie also in die Irre geführt, weil der nächstgelegene Standplatz in der Gußhausstraße wäre, wie ich nach Konsultierung von Google-Maps weiß. Ich hätte wissen müssen, dass ich nichts weiß, wie man nach Platon so schön sagt. Und ich hätte ihnen am besten ein Taxi auf der Taxi-App gerufen.

Es sind gerade diese wirklichkeitsnahen Bilder, die Jesus in seinen Gleichnissen verwendet, die auch nach 2.000 Jahren nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben. Sie funktionieren eben auch im Jahr 2025. Denn es gibt heute so viele Menschen, die glauben, etwas ganz genau zu wissen, und die dann feststellen müssen, oder die Menschen, die ihnen gefolgt sind, stellen fest, dass hier jemand so gar keine Ahnung hatte. Bei der Begegnung gestern ist das deutsche Paar ein bisschen weiter durch den Regen spaziert und sie werden schon einen schönen Tag in Wien gehabt haben. Aber ich war fest überzeugt, ich weiß was. Und in Wahrheit wusste ich nichts. Die Geschichte kommt beim griechischen Philosophen Platon so vor 2.400 Jahren erstmals gut überliefert vor. Platon ist der Schüler des großen Philosophen und Dichters Sokrates, von dem wir eben nur die Aufzeichnungen seines Schülers haben. Einmal soll Sokrates erfahren haben, dass jenes bekannte Orakel von Delphi ausgesagt habe: Niemand sei weiser als Sokrates. Nur Sokrates war sich sicher, dass er von vielem wenig bis gar keine Ahnung hatte. Und so machte sich Sokrates daran, in Gesprächen mit Dichtern, Politikern und einfachen Handwerkern ein Bild seiner eigenen Weisheit zu gewinnen.

„Beim Weggehen [von all den klugen Leuten] aber sagte ich zu mir: ‚Verglichen mit diesem Menschen bin ich doch weiser. Wahrscheinlich weiß ja keiner von uns beiden etwas Rechtes; aber dieser glaubt, etwas zu wissen, obwohl er es nicht weiß; ich dagegen weiß zwar auch nichts, glaube aber auch nicht, etwas zu wissen. Um diesen kleinen Unterschied bin ich also offenbar weiser, dass ich eben das, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube.‘ Von da ging ich zu einem anderen, den man für noch weiser hält als jenen. Dort bekam ich genau denselben Eindruck und machte mich auch bei diesem und dann noch bei vielen anderen unbeliebt. Daraufhin fuhr ich nun der Reihe nach fort und merkte dabei mit Betrübnis und Erschrecken, dass ich mir immer mehr Feinde machte. Dennoch schien es mir nötig, dem Götterspruch größtes Gewicht beizulegen. Darum musste ich zu all denen gehen, die etwas zu wissen schienen, um zu sehen, was das Orakel meine.“

Und schließlich schreibt Platon die berühmten Worte seines Lehrers und Meisters Sokrates auf, die bis heute rund um die Welt gehen und zur Entschuldigung für Nichtwissen gelten: „Denn von mir selbst wusste ich, dass ich gar nichts weiß …“

Jesus und die Gelehrten und Lesekundigen seiner Zeit kannten all diese griechischen Weisheiten. So wie wir heute Glückskekse beim Chinesen mit Freude lesen und austauschen, plauderte und diskutierte man damals über eben einen Spruch wie: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!“, fängt Jesus hier einen neuen Abschnitt seiner Rede an. Arm-herzi – althochdeutsch könnte es meinen, ein Herz zu haben für andere, besonders für Arme. Gemeint könnte auch sein, dass es hier um die Versorgung, die Unterstützung, das sich Verbundenfühlen mit meinen Mitmenschen geht. Als Beispiel widmet sich Jesus einer der menschlichsten Eigenschaften. Wir lieben es doch, über andere zu urteilen, oder etwa nicht? „Siehst du die Frau da drüben? Wie die schon wieder ausschaut!“ „Wo der Kerl da drüben wohl herkommt, den sollte man heimschicken ins Heimatland!“ „Mein Gott, diese Amis, denen steigt der Trump zu Kopf, fühlen sich immer als die Größten.“ Wenn ich mir ein Urteil erlaube, bevor ich drei Tage lang in den Mokassins, Schuhen, des Mitmenschen gegangen bin – wie die indigenen Völker Nordamerikas gesagt haben sollen – dann ist es ein Vorurteil. Beurteile nie einen Menschen, bevor du nicht mindestens einen halben Mond lang seine Mokassins getragen hast.

Okay, also 10 bis 11 Tage lang. Manchmal ist es auch eine Meile, also eine gewisse Zeit, in der ich mich in den anderen Menschen hineindenken und fühlen sollte. Jesus geht weiter und fordert dazu auf, sich gar kein Urteil zu erlauben. Und hier steckt ganz klar die Aussage drin: Wir dürfen uns niemals über die Frömmigkeit, den Glauben anderer ein Urteil erlauben. Viele Jahrhunderte lang haben sich die Kirchen gerade das herausgenommen, zu beurteilen, wie gerecht ein Mensch lebt und wie sündhaft jemand ist. Wir dürfen nicht zu Gericht sitzen, sofern es um Glaubensdinge geht. Sondern der Maßstab zur Einschätzung anderer darf nur sein: Vergebt einander und schenkt euch alles. Bei uns gilt meistens, dass „wir uns nichts schenken“, sprich wir es hart auf hart drauf ankommen lassen, wie etwas ausgeht.

Für Jesus gilt nicht „hart auf hart“, auch nicht „hart aber herzlich“, sondern „weich auf weich“. Wenn wir etwas abmessen, dann schütten wir es in den Messbecher, dann drücken wir es fest, schütteln es ein wenig und schauen, dass wir es auffüllen bis an den Rand. Gerade so misst GOTT bei uns nicht ab, wie weit wir im Leben gekommen sind, wie brav wir waren, wie sehr wir bisher Gutes und Schlechtes getan haben. GOTT verwendet bei uns keine Messbecher. Und wir sollten es auch nicht tun, andere abmessen danach, was sie uns an Freudigem, an Traurigem, an Ärgerlichem geschenkt haben. Wir sollen uns nichts schenken, in der Hinsicht, dass wir miteinander alles teilen sollten. Wenn ich sehe, dass ein Freund oder meine Kinder auf einem falschen Weg sind, sozusagen einen Weg, den sie wegen eines Splitters im Auge, sprich einer außergewöhnlichen Idee in ihrem Kopf sich fest vorgenommen haben, dann sollte ich checken und nachschauen, ob ich nicht einen Balken vorm Kopf hab, ein Brett vorm Kopf.

Wir alle haben so unsere Balken vorm Auge, unsere vorgefestigten Ansichten und Meinungen, Beurteilungen und wissen, was wir ablehnen und befürworten. Aber hin und wieder ist es nötig, wie Jesus es beschreibt, uns zu fragen: Sind wir nicht zu Scheinheiligen geworden, die Scheinheiligem aufsitzen? Und dann, so verspricht es uns Jesus, können wir zuerst unseren eigenen Balken, das Brett vorm Kopf entfernen und gemeinsam mit unserer Schwester oder unserem Bruder am eingezogenen Splitter arbeiten. Für Jesus, wie auch für Sokrates und Platon, steht fest: Der erste Schritt für ein gesundes und gutes Leben im Kreis unserer Mitmenschen muss lauten: Erkenne dich selbst! Ich muss mir bewusst werden, wo ich Balken, Bretter, Splitter im Aug, vorm Kopf habe, was mich einschränkt, um mit einem unvoreingenommenen Blick auf andere zugehen zu können.

Also frage ich Sie: „Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen?“ Nein, oder zumindest nicht besonders gut. „Werden sie nicht beide in die Grube fallen?“ Ja, wenn es eine Grube auf ihrem Weg gibt und sie keine Blindenstöcke haben. Seit 100 Jahren hat sich der Blindenstock, der weiße Langstock, auch Hoover-Cane genannt, enorm entwickelt und weit verbreitet. Guilly d’Herbemont hat diesen erstmals in Paris für den starken Verkehr entwickelt. Auch an anderen Orten wurden Langstöcke zum sicheren Fortkommen eingesetzt. Der Japaner Seiichi Miyake erfand schließlich vor 60 Jahren Blindenleitsysteme für blinde bzw. sehbehinderte Menschen. Wenn Jesus von den Blinden spricht, die sich gegenseitig führen wollen, dürfte das mitunter auch vorgekommen sein. Ein Mensch mit Sehschwäche war auf andere angewiesen, die sich hoffentlich gut und sicher bewegen konnten. Der Langstock war eine enorm befreiende Erfindung, die es seit gut 100 Jahren ermöglicht, auch ohne fremde Hilfe sicher von einem Ort zum anderen zu gelangen und die Wegstrecke auch noch gut erkunden zu können. Jesus merkt mehrmals an, dass wir die Menschen mit Schwächen, mit Beeinträchtigungen, mit Krankheiten und alle, die dazu noch in Not geraten sind, sie sollen wir nie aus dem Blick verlieren. Wenn wir heute neue Straßen und Gassen und Wege anlegen, dann wird selbstverständlich – weil gesetzlich vorgeschrieben – auf die Barrierefreiheit geachtet. Auch beim Neubau von Schulen oder anderen öffentlichen Gebäuden müssen sich eben auch blinde und sehschwache Personen frei bewegen können. Wir sind meistens die Blinden, wenn es um den Umgang mit blinden oder sehschwachen Mitmenschen geht.

Wo lernen wir denn eigentlich, wie wir uns richtig verhalten, wenn wir eine Frau mit Blindenstock vor einer Kreuzung mit stockendem Verkehr sehen? Wer bringt uns bei, wie wir richtig und nicht aufdringlich unsere Hilfe anbieten, wenn die Straße aufgerissen ist und wir es selbst kaum schaffen, heil auf die andere Straßenseite rüberzukommen? Wer von uns hat schon Erfahrung im Umgang mit sehbehinderten oder blinden Personen? Jesus meint ganz klar, dass es nicht so sein darf, dass nur die Blinden die Blinden führen. Sondern wenn ihr mehr sehen könnt, dann bringt euch ein in die Situation, in die Gesellschaft, verändert sie, wo ihr es könnt. Und da müssen zuallererst jegliche Berührungsängste ausgeräumt werden. Am dümmsten ist es, wenn ich nicht helfe, weil ich nicht weiß wie und es mir nicht zutraue. Ich kann mir leicht fehlendes Wissen darüber, wie man richtig unterstützt, aneignen. Auf der Website der „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs“ kann ich leicht die wichtigsten Tipps im Umgang nachlesen. Damit ich nicht blind in eine Situation hineingehe und damit Blinden oder Menschen mit Sehschwäche nichts Gutes tue. „10 Tipps, um auf blinde und sehbehinderte Personen offen und ohne Scheu zuzugehen!“, heißt es da. Denn manchmal brauchen Blinde wie auch Sehende tatsächlich Hilfe. Und dann können wir froh sein, wenn die hilfsbereite Person weiß, was zu tun ist. Und wenn sie noch eine gesunde offene vorurteilsfreie Einstellung zu uns hat, ist das wirklich ein Segen.