“Tu dir nichts an!” Apostelgeschichte 16, 16-34 von Harald Kluge

Die Geschichte spielt auf der zweiten großen Missionsreise des Paulus. Die Reise fand ungefähr in den Jahren 49 bis 52 statt. Ausgangs- und Endpunkt ist Jerusalem. Paulus und seine Begleiter reisen durch einige Städte Kleinasiens, sowie durch weite Teile des heutigen Griechenlands. So kommen sie eines Tages auch in die griechische Stadt Philippi, in der die allererste christliche Gemeinde auf dem europäischen Kontinent entsteht. Und da berichtet Paulus uns in der Apostelgeschichte folgendes aufsehenerregendes Abenteuer.

16Als ich, Paulus, mit meinen Begleitern wieder einmal zur Gebetsstätte in der Stadt Philippi gingen, begegnete uns eine Dienerin. Sie war von einem Geist besessen, der wahrsagen konnte. Mit ihrer Wahrsagerei brachte sie ihren Besitzern viel Geld ein. 17Sie lief hinter Paulus und uns anderen her und rief: »Diese Leute sind Diener des höchsten Gottes. Sie verkünden euch den Weg zur Rettung!« 18So ging das viele Tage, bis Paulus es nicht mehr ertragen konnte. Er drehte sich um und sagte zu dem Geist: »Im Namen von Jesus Christus befehle ich dir: Gib diese Frau frei!« Im gleichen Augenblick gab der Geist sie frei.

19Die Besitzer der Dienerin sahen, dass damit auch ihre Hoffnung auf Gewinn verloren war. Da packten sie Paulus und Silas und schleppten sie zum Marktplatz vor das Stadtgericht. 20Sie führten die beiden den Stadtobersten vor und sagten: »Diese Menschen stiften Unruhe in unserer Stadt. Sie sind Juden 21und wollen Bräuche einführen, die wir als Römer weder annehmen noch ausüben dürfen.« 22Auch die Volksmenge ergriff gegen sie Partei.

Da ließen die Stadtobersten Paulus und Silas die Kleider vom Leib reißen. Sie befahlen, die beiden mit Stöcken zu schlagen. 23Nachdem sie viele Schläge erhalten hatten, ließ man sie ins Gefängnis werfen. Dem Gefängniswärter wurde eingeschärft, sie besonders gut zu bewachen. 24Er führte den Befehl aus und brachte sie in die hinterste Zelle. Dort schloss er ihre Füße in den Holzblock.

25Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und sangen Loblieder für Gott. Die anderen Gefangenen hörten ihnen zu. 26Plötzlich gab es ein starkes Erdbeben, das die Fundamente des Gefängnisses erschütterte. Da sprangen alle Türen auf, und die Ketten fielen von den Gefangenen ab. 27Der Gefängniswärter wurde aus dem Schlaf gerissen. Als er sah, dass die Gefängnistüren offenstanden, zog er sein Schwert und wollte sich töten. Denn er dachte, dass die Gefangenen geflohen waren. 28Aber Paulus schrie laut: »Tu dir nichts an! Wir sind alle noch hier.« 29Der Wärter rief nach Licht. Er stürzte in die Zelle und warf sich zitternd vor Paulus und Silas nieder. 30Dann führte er sie hinaus und fragte: »Ihr Herren, was muss ich tun, damit ich gerettet werde?« 31Sie antworteten: »Glaube an den Herrn, Jesus, dann wirst du gerettet und mit dir deine ganze Hausgemeinschaft.« 32Und sie verkündeten ihm und allen anderen in seinem Haus das Wort des Herrn. 33In dieser Nacht, noch in derselben Stunde, nahm der Wärter Paulus und Silas zu sich. Er wusch ihnen die Wunden aus. Dann ließ er sich umgehend taufen – mit allen, die bei ihm lebten. 34Anschließend führte er die beiden in sein Haus hinauf und lud sie zum Essen ein. Die ganze Hausgemeinschaft freute sich, dass sie zum Glauben an Gott gefunden hatte.

Liebe Gemeinde!

Raten Sie mal, was Paulus und Silas nach dem Abendessen mit dem Kerkermeister und seiner Familie getan haben. Sie sind brav zurück ins Gefängnis gegangen, haben sich in ihre Zelle begeben und freiwillig die Füße in den Block gesteckt.

Dann zur Morgenstunde schicken die Stadtobersten von Philippi ihre Amtsdiener und geben dem Gefängniswärter die Anweisung: »Lass diese Leute frei!«

Paulus und Silas haben dem Kerkermeister vergeben.

Es ist für sie die Möglichkeit, das von ihnen erlittene Unrecht zu bewältigen. Die Opfer versuchen so die mit dem Schlagen und Einsperren verbundenen leidvollen, schmerzhaften Erfahrungen hinter sich zu lassen.

Paulus und Silas entschuldigen die Gewalt gegen sich und die in ihren Augen ungerechte Tat nicht. Sie zeigen aber in ihrer Haltung gegenüber diesem Kerkermeister, dass sie sich ihm gegenüber unbelastet verhalten.

Sie werfen dem Wärter sein schuldhaftes Verhalten nicht vor. Und so zeigen sie ihm gegenüber eine Reaktion, mit der er sicherlich nie im Leben gerechnet haben wird.

Die Wunder hier in der Szene sind nicht das übernatürlich wirkende Erdbeben, das plötzliche Abfallen der Ketten und Fesseln oder das Sich-von-alleine-Öffnen der Gefängnistüren.

Das Wunder geschieht ganz unscheinbar und verändert alle Beteiligten nachhaltig. Der BAD GUY etwa, der Kerkermeister wundert sich über die freundliche Haltung der beiden Gefängnisinsassen ihm gegenüber. Sie tun ihm nicht nur nichts an, überwältigen ihn nicht, werfen ihm seinen grässlichen Beruf gar nicht einmal vor. Nichts in der Richtung wie: „Du schrecklicher Mann! Dir macht das Quälen von Wehrlosen bestimmt noch Spaß!“

Sie verfluchen ihn nicht. Sie wünschen ihm nicht die Pest an den Hals oder Gottes strafenden Zorn. Ja, sie laufen nicht einmal davon, sondern sitzen seelenruhig im Gefängnis und warten einmal ab bis er zurückkommt.

Paulus und Silas werden als Gefängnisinsassen, die zuvor gequält worden sind, von ihrer Situation der Ohnmacht plötzlich zu Menschen, die das Geschehen beeinflussen können.

Wären sie davongelaufen, hätte sich der Wärter in sein Schwert gestoßen. Hätten sie dem Wärter Vorwürfe gemacht, ihm gezeigt, was für ein mieser und schlimmer Mensch er in Wahrheit ist, hätte er sich sein Leben genommen.

Nur indem sie im Gefängnis vor Ort bleiben, und eben nicht vom Ort ihrer Scham fliehen, holen sie sich die Entscheidungsgewalt zurück.

Sie haben es in der Hand, wie die Geschichte und wie ihr Leben weitergeht und ob das Leben des Kerkermeisters noch eine Zukunft haben kann. In gewissem Sinne retten sie ihm sein Leben.

Zuerst holen sie sich wieder die Kontrolle zurück. Und wenn wir uns die Story vom Schluss her anschauen, ist es die einzige Möglichkeit, wie sie einen guten Ausgang für alle findet. Aus einer der tiefsten und dunkelsten und hoffnungslosesten Stunden für Paulus und Silas wird durch eine kleine Intervention Gottes eine Win-Win-Situation. Paulus und Silas kommen frei. Und sie bringen den Kerkermeister, der „ja nur seinen Beruf ausübt“, über sein Tun nachzudenken. Und er wird von da an auch anders über die Christenmenschen ja die Mitmenschen überhaupt gedacht haben.

Unsere Mitmenschen können uns halt auch immer wieder mal positiv überraschen.

Es war für den Gefängnisaufseher, der zugleich auch Folterknecht war, völlige überraschend, dass Paulus und Silas ihn nicht noch anfeuern: „Komm, stürz dich in dein Schwert, du Hund!“

Stattdessen ruft Paulus den einen Satz aus, der es in sich hat, weil er Leben retten kann:

„Tu dir nichts an!“ Und dazu sagt er noch: „Wir sind hier.“ Wir sind hier für dich … Wir sind wegen dir geblieben. Wir hätten fliehen können, haben es aber nicht getan.

Bei den Versuchen von Selbsttötungen ist es eine Chance, wenn durch Anwesenheit, nur weil jemand da ist, man jemanden doch noch von dieser unumkehrbaren Handlung abhalten kann. Wer sich das Leben nehmen will, wie hier der Kerkermeister, sieht keinen Ausweg mehr, gar keinen. In so einer Situation fühlen wir uns völlig ohnmächtig. So ohnmächtig wie Hagar mit ihrem Sohn Ismael in der Wüste, erwarten manche einfach nur noch, dass es endlich und schnell vorbei sein soll. In dieser Geschichte in 1 Mose 21 werden Hagar und ihr Sohn von Abraham wegen der Eifersucht seiner Frau Sarah in die Wüste geschickt. Sie sind kurz davor zu verdursten und Hagar legt Ismael nieder und weint und wartet.

So sitzt sie da in der heißen Wüste, ohne Essen und ohne Wasser, das Kind schreit laut, und Hagar weint laut. Ihr hilft nur noch, dass sie irgendjemand sieht, wahrnimmt. Ein Bote Gottes spricht sie plötzlich an:

»Hagar, was ist mit dir? Fürchte dich nicht! Gott hat das Weinen des Jungen gehört, der dort liegt. Steh auf, heb den Jungen hoch und halt ihn fest in deinen Händen! Denn ich will ihn zum Stammvater eines großen Volkes machen.«

Und es heißt, Gott öffnet ihr die Augen. Weil davor hat sie nur ihr Leid gesehen und nichts anderes mehr. Da braucht es jemanden, der sie aufruckelt und schüttelt und sie darauf stößt, was ihr weiterhilft. Sie sieht einen Brunnen. Sie geht hin, füllt den Schlauch mit Wasser und gibt zuerst dem Jungen zu trinken und trinkt dann selbst davon.

So wie der Kerkermeister sieht Hagar plötzlich, nur weil jemand sie darauf hinstupst, eine Möglichkeit, weiterzuleben.

Es war zur richtigen Zeit jemand da, bei ihr, bei ihm, bei dem Kind.

Und es ist so notwendig, ja im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig, dass wir und noch viel mehr Menschen dorthin schauen, wo Menschen verdursten, verhungern, wo Kinder, Frauen, Männerschreien wie Hagar und ihr Sohn Ismael. Auch heute werden Menschen in die Wüste, in unbewohnbare Gebiete getrieben oder werden Gebiete unbewohnbar gemacht, zerbombt, mit Raketen in Schutt und Asche geschossen.

Und es bräuchte viele solcher Boten, wie den Engel, so wie die Ärztinnen und Ärzte bei „Ärzte ohne Grenzen“ und den anderen Hilfsorganisationen, die sich selbst in Lebensgefahr bringen um andere aus der Lebensgefahr zu retten.

Ich würde mir wünschen, dass wir wie Paulus und Silas zur richtigen Zeit die richtigen Worte dafür parat haben. Und dass wir dort sind, wo wir einen Unterschied machen. Wenn ein Mensch in tiefer Not schreit, zu Gott schreit, keinen Ausweg mehr erkennen kann hat sich schon immer wieder mal ein neuer Weg gezeigt. Und da können diese Worte Wunder wirken, wie damals.

Tu dir nichts an! Wir sind hier! Ich bin hier!“

Für die Familie und den Kerkermeister selbst war dieser Tag der erste Tag eines neuen Lebens. Raus aus dem Alltagstrott und Berufsleben, hat er sich und Paulus und Silas gefragt: »Was muss ich tun, damit ich gerettet werde?«

„Wer fragt sich das heute noch?“, frag ich mich.

Paulus und Silas antworteten damals: »Glaube an den Herrn, Jesus, dann wirst du gerettet und mit dir deine ganze Hausgemeinschaft.« Mehr hat es dann auch nicht mehr gebraucht, um diesem Mann, dem Schurken, ein völlig neues befreites und gewaltfreies Leben zu zeigen. Wie selbstverständlich wäscht und versorgt er die Wunden der Gefangenen, lässt ein Essen auftischen, gibt ihnen zu essen und erlebt eine Nacht voller Wunder. Nie hätte er das für möglich gehalten. Aber es wurde Wirklichkeit und bestimmt hat er und hat seine Familie und seine ganze Hausgemeinschaft von da an, Menschen geholfen und damit gezeigt, wie wertvoll jedes Leben ist und wie wichtig es ist, Leben zu bewahren und zu fördern.

„Tu dir nichts an! Du bist für Gott und für mich unendlich wertvoll als Mensch, als Bruder, als Schwester!“ Das sollten wir anderen wohl öfters sagen.