Johannes 18, 12-14. 19-24. 28. 33-38
„Wahrheit – was ist das?“
Harald Kluge
12Die römischen Soldaten mit ihrem Anführer und die Tempelwache der jüdischen Behörden nahmen Jesus fest. Sie fesselten ihn 13und führten ihn zuerst zu Hannas. Der war der Schwiegervater von Kaiphas, der in jenem Jahr der Hohepriester war. 14Kaiphas war es, der zuvor den jüdischen Behörden den Rat gegeben hatte: »Es ist besser, wenn ein Mann für das Volk stirbt.« 19Der Hohepriester befragte Jesus über seine Jünger und über seine Lehre. 20Jesus antwortete: »Ich habe stets öffentlich und vor aller Welt gesprochen. Ich habe immer in den Synagogen und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen. Niemals habe ich etwas im Geheimen gesagt. 21Warum also fragst du mich? Frag doch die Leute, die gehört haben, was ich zu ihnen gesagt habe. Die wissen, was ich gesagt habe!«
22Als Jesus das sagte, schlug ihm einer von der Tempelwache, der dabeistand, ins Gesicht und fragte: »Wie kannst du dem Hohepriester so antworten?« 23Jesus entgegnete ihm: »Wenn ich etwas Unrechtes gesagt habe, dann weise mir nach, dass es Unrecht ist. Wenn ich aber im Recht bin, warum schlägst du mich?«
24Daraufhin sandte Hannas ihn in Fesseln zum Hohepriester Kaiphas. 28Die Vertreter der jüdischen Behörden brachten Jesus von Kaiphas zum Sitz des römischen Statthalters, dem sogenannten Prätorium. Es war früh am Morgen. 33Pilatus ließ Jesus rufen und fragte ihn: »Bist du der König der Juden?« 34Jesus antwortete: »Fragst du das von dir aus oder haben andere dir das über mich gesagt?« 35Pilatus erwiderte: »Bin ich etwa ein Jude? Dein Volk und die führenden Priester haben dich zu mir gebracht. Was hast du getan?« 36Jesus antwortete: »Das Reich, dessen König ich bin, stammt nicht von dieser Welt. Wenn mein Reich von dieser Welt wäre, hätten meine Leute für mich gekämpft. Dann wäre ich jetzt nicht in den Händen der jüdischen Behörden. Aber mein Reich stammt eben nicht von dieser Welt.« 37Pilatus fragte weiter: »Also bist du doch ein König?« Jesus antwortete: »Du sagst es: Ich bin ein König! Das ist der Grund, warum ich geboren wurde und in die Welt gekommen bin: Ich soll als Zeuge für die Wahrheit eintreten. Jeder, der selbst von der Wahrheit ergriffen ist, hört auf das, was ich sage.« 38Da fragte Pilatus ihn: »Wahrheit – was ist das?«
Liebe Gemeinde!
Was ist Wahrheit und wem ist sie noch heilig?
Überall, wo ich hinschau, wird gelogen und betrogen und hinterzogen und ein Schauspiel abgezogen, dass es nur noch zum Weinen und Jammern ist. Selbst den vertrauenswürdigsten Ministern und Entscheidungsträgern, selbst Präsidenten oder Präsidentschaftskandidatinnen wird in diesen Tagen in vielen Ländern der Prozess gemacht. Und flugs sind sie schuldig gesprochen und im Häfn. Oder sie haben noch ein wenig Zeit oder mehr Zeit oder Jahre Zeit oder mehr als ein Jahrzehnt Zeit. Weil die Mühlen der Rechtsprechung und der Verurteilungen und Einsprüche eben langsam mahlen. Und auch da steht die Frage im Raum: „Wahrheit – Was ist das?“
Wem steht es zu, darüber zu befinden, was Wahrheit ist?
Auch Jesus kommt in die Mühlen der Justiz. Zuerst muss er sich vor den religiösen Rechtslehrern verantworten. Und dann wird er zermahlen vom Rechtssystem des Römischen Staates. Ob was wahr ist und was dran an den Behauptungen gegen den Deliquenten Jesus aus Nazareth? War Jesus ein Rebell und politischer Aufwiegler? Hat Jesus sich mit der Darstellung als Sohn Gottes selbst ketzerisch verhalten? Passend zu Karfreitag nach reformierter Tradition lautet die Antwort: Es ist und war Wurscht. Um die Wahrheit hat sich niemand geschert.
Und es scheren sich heute scheinbar nur mehr wenige, man sagt, naja, das sind die Menschen mit einer romantisierenden Vorstellung von Moral und Ethik. Machen wir halt ein Schulfach Ethik und hoffen wir, dass moralische und demokratische Einstellungen bei den Kindern und Jugendlichen hängenbleiben. Fake News, Falschmeldungen, falsche Behauptungen, irreführende Aussagen … All diese sind an der Tagesordnung und machen den grauen Alltag durchaus spannender und reizvoller. Wahrheit – was ist das? Eine kleine Auswahl an Meldungen, deren Wahrheitsgehalt Sie bitte für sich überlegen. Die Ukraine habe ja bekanntlich Russland angegriffen. Und es liege allein am Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Selenskyj, diesen Krieg zu beenden.
Wir haben in Österreich und in Europa und der gesamten Welt, wie sie jetzt immer wieder gesagt bekommen, einen DEEP STATE. Reiche und mächtige, gierige und unmoralische Entscheidungsträger betreiben den großen Austausch, untergraben das Justizsystem, untergraben ja was … die U-Bahn und zum Drüberstreuen heißt es, da werden dann Kinder entführt und deren Blut für die genannten Reichsten und Mächtigsten abgezapft. Und übrigens: Im Untergrund leben außerdem noch die Echsenmenschen, die jedoch ihre Gestalt wandeln können. Dann kommen sie Ihnen als Politiker oder Nachbarinnen entgegen. Seien Sie gewarnt!
Grönland ist geografisch natürlich ein Teil Nordamerikas und es gibt daher das gute Recht der USA, sowohl Kanada als auch Grönland für sich zu reklamieren.
Renommierte Universitäten wie Harvard sind übrigens, kein Witz, bloß ein Witz und dort bringen sie einem nur Hass und Dummheit bei! Wer im Wissenschaftsbetrieb nicht der vorgegebenen Doktrin folgt, soll künftig als Nestbeschmutzer, als woke Irrlehrerin gelten. Und schon finden in der größten Demokratie unseres Planeten Gesinnungstests statt. Wer durchfliegt, zu liberal, zu feinsinnig, zu tolerant oder divers denkt, fliegt raus aus den Universitäten, oder fliegt gleich wieder heim, weil sie als Auslandsstudentin nicht gelitten wird.
…
Ich gebe zu, mir schwirren diese Entwicklungen in kurzen Nachrichtenfetzen im Gehirn herum und ich traue weder meinen Augen, noch meinen Ohren mehr. Es wird für mich einfach zu viel an Quatsch von Schwurblern, Verschwörungstheoretikern und Querdenkern in die Welt ausgeschieden.
Und immer öfter entwischt mir ein: „Das darf doch nicht wahr sein!“ „Ja, das kann doch nicht wahr sein!“
Zuletzt als Orbán in unserem Nachbarland – und verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe Ungarn und seine Kultur und Geschichte mit uns Österreichern – aber als sie mit einem Handstrich, einem Federstrich, einem Dekret, einer überfallsartigen Aktion, offiziell nur noch zwei Geschlechter für ihre Bürgerinnen und Bürger von nun an erlauben wollten, dachte ich mir: Das darf doch nicht wahr sein! Und dass sie LGBTQI+ Aktivistinnen und Aktivisten mit pädophilen Verbrechern und Verbrecherinnen – wie wir in Wien sagen mit „Kinderverzahrern“ – gleichsetzen, widerspricht meinem vernunftgesteuerten Denken zutiefst.
Klar, es ist ein gutes Zeichen, dass dem Druck der mächtigen Entscheidungsträger auch Widerspruch und Widerstand entgegengebracht wird. Harvards Leitung widersetzt sich nach letzten Meldungen, anders als viele andere US-Universitäten, Trumps Forderungen, Diversitätsabteilungen aufzulassen und die Einwanderungsbehörde beim Durchleuchten von Studentinnen und Studenten zu unterstützen. Widerstand ist nicht zwecklos, nie. Widerstand und Widerspruch, sofern er an die Öffentlichkeit gelangt, kann mich motivieren, selbst dazu anstacheln, noch einmal nachzudenken, ob der eingeschlagene Weg wirklich der richtige ist. Nein, ist er nicht.
In der Geschichte um die Verhaftung und Verurteilung sowie die Hinrichtung von Jesus spielt gerade auch diese Vernunftfrage eine große Rolle. Jesus stellt sich den Machthabern seiner Zeit. Er weicht nicht aus. Jesus gewinnt das Schisserspiel gegen alle seine Gegner und Feinde. Gegen Hannas und gegen Pilatus bleibt Jesus am Drücker, weicht ihnen nicht aus, duckt sich nicht weg und redet sich nicht heraus. Sie klagen Jesus an, als jemanden, der von sich als König der Juden gesprochen hat, ein Feind des Römischen Reiches. Dabei sind Jesus Machtspiele und Rangeleien völlig uninteressant.
„Wahrheit – was ist das?“ Diese klare Frage stellt Pilatus Jesus und es wäre interessant gewesen, wenn wir eine Antwort von Jesus darauf überliefert bekommen hätten. Aber Pilatus stellt diese Frage, womöglich ernsthaft, aber dreht sich gleich um und geht weg. Der Denker Voltaire meinte einst zu dem Pilatus-Spruch: „Es ist traurig für das Menschengeschlecht, dass Pilatus wegging, ohne die Antwort abzuwarten. Wir möchten doch wissen, was das ist, die Wahrheit. War Pilatus zu wenig neugierig?“
Voltaire gibt sich dann die Antwort selbst, um die er sich durch Pilatus’ Weggang gebracht sieht: „Wahrheit“, sagt er, „ist nichts anderes als ein abstraktes Wort, das die Mehrheit der Menschen ohne Unterschied in ihren Büchern und Urteilen anstelle von Irrtum und Lüge gebraucht.“
Für uns heute scheint Wahrheit eine Illusion zu sein, von der wir vergessen haben, dass sie eine ist. Aber genau da verläuft die Grenzlinie zu dem, was den christlichen Glauben ausmacht. „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege“,
sagt Jesus von sich. Er versteht also seine ganze Existenz als ein einziges Wahrheitsgeschehen. Durch ihn – durch das, was er sagt, was er tut, wie er ist – wird etwas bewahrheitet, also wahr gemacht. Und was? Man braucht nur kurz auf die Ursprachen der Bibel zu achten. Im Griechischen steht für Wahrheit “aletheia”, meist übersetzt mit Offenbarkeit, Offenlegen – noch besser wörtlich wiederzugeben mit „Un-Vergessenheit“. Im Aramäischen wird hier etwa das Wort „Treue“ verwendet. Im Leben, Wirken und Sterben und Heilen und Trösten von Jesus wird für uns sichtbar, und werden wir daran erinnert, wer Gott ist und wer der Mensch ist. Und wie wir beide zueinanderstehen.
Wahrheit – Geht es damals wirklich um Wahrheit? Und wo geht es denn eigentlich noch um Wahrheit an sich? Ich behaupte einmal, dass es Bereiche im Leben gibt, in denen es nicht wirklich um Wahrheit geht. Und es darf da auch nicht um sie gehen. In einigen Lebenslagen geht es gerade nicht um Rechthaben oder Falschliegen. Wenn ich mich mit meiner lieben Frau oder meinen lieben Kindern streite, über irgendetwas, dann spielt es vorrangig keine Rolle, wer Recht hat.
Er sagt zu ihr vorwurfsvoll: „Du packst ständig viel zu viele Sachen, wenn wir auf Urlaub fahren wollen.“
Sie zu ihm darauf: „Du hast eben keine Ahnung, was man für Gewand braucht. Wenn du immer in denselben billigen Klamotten rumlaufen willst, wie ein Penner, na dann bitte.“
Er darauf zu ihr: „Aber wie soll ich das wieder in den Mietwagen reinquetschen? Ihr braucht nie und nimmer all die Unterwäsche, die 10 T-Shirts für 5 Tage und die 3 Paar Schuhe pro Person.“
Sie entgegnet darauf wiederum: „Na, wenn du alles besser weißt, bleibst besser daheim.“
Hier geht’s nie darum wer hat Recht, auch nicht so sehr, wer setzt sich durch. Es geht ums Offenlegen von Dahinterliegendem. Es geht einzig und allein darum, was zwischen den Aussagen für Botschaften mitschwingen. „Du verstehst mich nicht, willst mich nicht verstehen, aber ich hätte gerne, dass du mich verstehst.“
Auch in der Szene von Jesus vor dem Hohen Rat und dann vor Pilatus geht’s nicht um Wahrheit und nicht um Wahrheitsfindung. Es ist ein Pokerspiel um Macht und Durchsetzungskraft, eben ein Schisserspiel. Aber der Einsatz ist das Leben eines Menschen. Dabei hatte Jesus nur gemeint, wie gut es für die Welt wäre, wenn wir alle einmal versuchen würden, netter zueinander zu sein. Weniger Ellbogen, mehr Regenbogen, weniger Wegdrängen, mehr Umarmungen schenken. Alle anderen positiven Verhaltensweisen im politischen, rechtlichen, religiösen und familiären Leben werden sich dann schon von selbst einstellen.
Jesus hatte nicht vor, die Gesetzesvorschriften aufzuheben, aber er wollte sie lebbar machen. Die Obrigkeit in religiösen Fragen entschließt sich, Jesus zu verhaften. „Einer soll fürs Volk sterben.“ Jesus wird von den Tempelwachen verhaftet und vor den Hohepriester gebracht. Seine Verteidigung ist einfach: „Warum verhaftet ihr mich jetzt in der Nacht? Ich war immer im Tempel und habe öffentlich gesprochen und nie hat sich einer von euch darüber bei mir beschwert.“ Da schlägt ihm eine Tempelwache ins Gesicht. Und es ist genau dieser Schlag, der einem versetzt wird, um zu zeigen: „Du hast jetzt einmal gar nichts zu melden! Einen falschen Mucks, einmal widersprechen und wir schlagen dich, dass dir Hören und Sehen vergeht. Im wahrsten Sinne des Wortes.“
Jesus als Gottes Sohn ist standhaft und trotz der Prügel spricht er das Offensichtliche offen aus: „Wenn ich etwas Unrechtes gesagt habe, dann weise mir nach, dass es Unrecht ist. Wenn ich aber im Recht bin, warum schlägst du mich?“
„Weil ich es kann und weil du ab jetzt nur noch ein Opfer bist, mein Opfer.“
Jesus wird zum Opfer, wie so viele politische Gefangene, oder unterdrückte Stimmen und Meinungen, wie so viele, die sich nichts sagen trauen, die im Stillen leiden. Hier geht’s keinesfalls um einen gerechten Prozess. Als Jesus dann von Hannas zu Pontius Pilatus gebracht wird, wird er nur so nebenbei von Pilatus, dem Statthalter Roms gefragt: „Bist du der König der Juden?“ Und dann fragt Pilatus noch: „Was hast du getan?“
„Ich habe nichts aber auch rein gar nichts Unrechtes vor Gott getan.“, sagt Jesus. Und mir wird es als Bystander, als Zuschauer, als Gaffer, als Schaulustiger dieser Szene, die jedes Jahr neu thematisiert wird, mulmig:
„Das Reich, dessen König ich bin, stammt nicht von dieser Welt. … Mein Reich stammt eben nicht von dieser Welt.
Du, Pontius Pilatus, du Kaiser, du Präsident, du großer Vorsitzender, du politischer, militärischer Herrscher magst Herr über Armeen und über die Peitsche und das Folterwerkzeug dieser Handlanger sein.
Ihr mögt euch euren Gewaltherrschaftsphantasien hingeben und im Unterdrücken derer gefallen, die euch kritisieren.
Auch ihr religiösen Herrschaften und Oberhäupter mögt euch jetzt noch wichtig fühlen und glauben, anderen ihren Glauben vorschreiben zu können.
Aber eure Herrschaftszeiten sind gezählt. Eure Wahrheiten, die ihr mit Gewalt durchsetzen wollt, werden sich erst als Halbwahrheiten und dann als Unwahrheiten entpuppen.
Spielt euch bloß auf in euren kleinen Reichen als die Reichen und Schönen und Mächtigen.“
Jesus ist klar auf der Seite der Entrechteten, der Ärmsten und Verarmten, der Hungrigen und Frierenden. Jesus lächelt denen zu, die man als schiach und blöd und unnütz beleidigt. Nicht den Gesunden, sondern den Kranken reicht Gott die Hand von Jesus hin. Nicht die Glücklichsten, die ihr Glück mit niemandem teilen wollen, sondern die Unglücklichen, die ihr Unglück mit niemandem teilen können, umarmt Gott mit den Armen und Händen von Jesus. Nicht zu denen, die alles zu wissen glauben und nichts glauben, nicht zu den Besserwissenden läuft er, sondern zu denen, die sich klar sind, nichts oder so gut wie nichts zu wissen, läuft Gott mit den Beinen und Füßen von Jesus hin.
Ulrich Zwingli meinte oft und soll es gern gesagt haben: „Die Wahrheit macht euch frei. Und die Wahrheit hat ein freundliches Gesicht – die Wahrheit hat ein fröhlich Angesicht“. Sie hat das Gesicht von Jesus. Übrigens sehen Martin Luther und Johannes Calvin hinter der Frage „Was ist Wahrheit?“ beide klar den Zynismus von Machtmenschen, wie Pilatus. Heutige Machtmenschen würden auch sagen: Was schert mich die Wahrheit? Calvin schreibt: „Dass Pilatus seine Worte spöttisch gemeint hat, wird daran deutlich, dass er sofort hinausgeht.“
Luther sagt etwas lebensnaher: „Ich denke, es sind heidnische Possen aus einem frechen Gewissen. So ist der Welt Lauf: Wahrheit kann man nicht leiden; wer in der Welt leben will, verschweige die Wahrheit und bescheiße die Leute!“ “… und sich selbst” – würde ich ergänzen. Auch darin steckt gewiss ein Funken Wahrheit.