“Ich kann nur glauben, was ich begreife …”

Johannes 20, 19-29

Harald Kluge

„Am Abend dieses ersten Tages nach dem Sabbat, als die Jüngerinnen und Jünger hinter geschlossenen Türen saßen aus Angst vor der jüdischen Obrigkeit, da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: »Friede sei mit euch!« Als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und die Seite. Da freuten sich die Jüngerinnen und Jünger, dass sie Jesus den Lebendigen sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: »Friede sei mit euch! Wie mich GOTT gesandt hat, so sende ich euch.« 

Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und sagte ihnen: »Nehmt die heilige Geistkraft auf. Allen, denen ihr Unrecht vergebt, ist es vergeben. Allen, denen ihr dies verweigert, bleibt es.«

Aber Thomas, einer der Zwölf, der Didymos oder Zwilling genannt wurde, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jüngerinnen und Jünger sagten zu ihm: »Wir haben Jesus den Lebendigen gesehen.« Er aber sagte zu ihnen: »Wenn ich nicht die Wunden der Nägel in seinen Händen sehe und meinen Finger in die Nägelwunden lege und mit meiner Hand in seine Seite greife, dann werde ich nicht glauben.« Nach einer Woche saßen die Jüngerinnen und Jünger wieder drinnen und Thomas war bei ihnen. Jesus kam – die Türen waren verschlossen – und trat in ihre Mitte und sagte: »Friede sei mit euch!«

Dann sagte er zu Thomas: »Lege deinen Finger hierher und sieh meine Hände an und nimm deine Hand und greife in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!« Thomas antwortete und sagte zu ihm: »Ich verehre dich und will dir gehorchen, du bist der Lebendige, mein GOTT!« Jesus sagte zu ihm: »Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Glücklich sind, die nicht sehen und trotzdem glauben.«

Johannes 20,19-29

Liebe Gemeinde!

„Ich kann nur glauben, was ich auch sehen kann.“ So rechtfertigt Thomas in der Runde der Jünger, dass er ihnen nicht glaubt. Nur weil ihr behauptet, Jesus wäre mitten unter euch gestanden, muss es ja nicht wahr sein. Vielleicht erlaubt ihr euch einen bösen Scherz mit mir. War Thomas womöglich so das Opfer der Männerrunde? Kommt, lasst uns einen kleinen Scherz mit dem Thomas spielen und sagen wir ihm, der Auferstandene, Jesus selbst, wäre plötzlich mitten hier im Raum aufgetaucht. Okay, los geht’s.

»Wir haben Jesus den Lebendigen gesehen.«

Thomas glaubt nicht, was sie ihm erzählen und auftischen. Es klingt zu abenteuerlich und sie alle zweifeln bis zum Schluss, bis nach der Himmelfahrt von Jesus. Ich kann es nicht glauben, nur weil ihr es mir erzählt. Und wenn ihr mich fragt, wann ich es euch glauben würde, dann sage ich euch: „Erst wenn ich Jesus selbst sehe und die Finger in die Wundmale der Kreuzigung legen kann, dann werde ich glauben.“ Sieben Tage lang werden sich die anderen Jünger gedacht haben, na dann hat der Thomas halt Pech gehabt. Wenn Thomas es nicht wahrhaben will, ist das sein Problem. Der arme ungläubige Thomas wird wohl nicht nur einmal gehört haben: Na komm schon, gib dir einen Ruck, glaub es doch. Es stimmt, Jesus lebt, er stand mitten hier im Raum und hat zu uns gesagt: Friede sei mit euch!

Das ist für mich kein Beweis. Und er hat zu uns gesprochen: Ich schicke euch aus, so wie GOTT mich ausgeschickt hatte. Und er hat uns angehaucht, und gesagt: Nehmt die heilige Geistkraft GOTTES auf! Und wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben und wem ihr sie nicht vergebt, der hat Pech gehabt und dem klebt es wie Schmutz an der Sandalensohle und am Gewand. Thomas kann es nicht glauben. Jesus hatte zu seinen besten Zeiten bekanntlich 84 Jünger. Auf diese konnte er sich felsenfest verlassen und sandte 72 Handverlesene aus, damit sie den Leuten das Wort Gottes predigen und heilen. Die zwölf engsten Freunde sammelte er um sich, solange er auf Reisen war. Nur einer traute sich Jesus auch zu widersprechen, wie wir in den Berichten der Evangelien nachlesen. Als Jesus davon sprach, er werde bald zu seinem Vater aufbrechen und es gäbe dort viele Wohnungen, die er vorbereiten wird, sagt er zu den Jüngern: „Wo ich hingehe, wisst ihr ja. Den Weg kennt ihr bereits.“ „Nein, Herr«, widersprach ihm Thomas, »wir wissen nicht einmal, wohin du gehst! Wie sollen wir dann den Weg dorthin finden?«“ (Johannes 14,4-5)

Thomas, der Name ist von dem aramäischen te’oma abgeleitet und meint „Zwilling“, traut sich so einiges. Einmal spricht er vollmundig: »Ja, lasst uns mit Jesus nach Judäa gehen und dort mit ihm sterben.« (Johannes 11,16) Sein mutigster Akt ist aber die Verweigerung, einfach so zu glauben, was die anderen Jünger ihm erzählen. Thomas ist dabei kein Dummkopf. Denn nach dem alten Sprüchebuch (18, ) heißt es: „Ein Dummkopf bemüht sich erst gar nicht, etwas zu begreifen – er will bloß zu allem seine Meinung sagen.“ Thomas will sich nicht äußern, er braucht handfeste Beweise. Ich kann mich eben auch nicht zwingen, etwas zu glauben. Entweder tu ich es oder eben auch nicht. Ich kann mich nicht dazu zwingen daran zu glauben, dass es Leben auf anderen Planeten geben soll oder vielleicht auch nicht. Dazu fehlen mir sämtliche Daten. Das sind alles nur Wahrscheinlichkeiten. Und hat Glaube nicht eine größere Sicherheit zu bieten als Wahrscheinlichkeiten? Ich glaube an Gott – nicht dass ich mit einer 90%igen Wahrscheinlichkeit davon ausgehe, dass es GOTT gibt. Oder dass ich mit einer 50%igen Wahrscheinlichkeit rechne. Der Glaube ist durchaus eine seltsame Ansicht in einer eigenen Kategorie, ist gleichzeitig Überzeugung und hat mit Wissen zu tun. Glauben, fürwahrhalten, wissen und überzeugt sein … Wenn ich an bestimmte Dinge glaube, dann halte ich sie für wahr. Aber das meint nicht, dass ich sie für alle für wahr hielte. Bei Thomas stellt sich das Problem, dass es egal ist, ob er glauben will oder es auch nicht will – Ich will mir das gar nicht erst vorstellen! – Thomas kann es sich nicht aussuchen. Er glaubt es nicht.

Und da taucht Jesus nach einer langen Woche wieder inmitten des verschossenen Raumes in der Mitte der Runde der Jünger auf. Und sie sind wieder ganz aufgeregt. »Friede sei mit euch!« Jesus fordert Thomas auf: „Lege deinen Finger hierher und sieh meine Hände an und nimm deine Hand und greife in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Hat er es nun getan oder nicht? Das ist eine der spannenden Fragen, die wir bis heute nicht beantworten können. Der Text sagt es nicht direkt so aus, aber er wäre durchaus auch so zu verstehen. Hat er oder hat er nicht? Glauben Sie, dass Thomas den Finger in die Wunde gelegt hat?

Auf dem Gemälde „Der ungläubige Thomas“ des berühmten Barockmalers Caravaggio, das er so um 1600 gemalt haben soll, gibt es keinen Zweifel. Thomas hat nicht nur mit der Fingerspitze die Wundmale berührt. Er hat sich vornübergebeugt und den Finger tief in die Wunde an der Seite von Jesus gebohrt. Er hebt die Haut oberhalb der Wunde ein wenig an um noch tiefer blicken zu können.

Tief, unerträglich tief, ist der rechte Zeigefinger in die Seitenwunde eingedrungen. Sein Druck hat den Wundrand hochgeschoben und lidförmig aufgewölbt. Kein Blut fließt, kein Sekret tritt aus, totenblass das offene Fleisch, in dessen Inneres Thomas mit dreistem Finger vorgedrungen ist.

Thomas schaut drein, als würde er noch immer zweifeln, und zwei andere Jünger lehnen sich auch vor und wollen es sehen. Sie alle hatten Zweifel und ihre Bedenken. Aber nur Thomas, der Mutigste von ihnen (mutiger waren nur die Frauen, wie Maria aus Magdala, die allein im Dunkeln auf den Friedhof hinausgegangen war), Thomas hatte den Mut, Jesus die Stirn zu bieten. Ich weiß ehrlich nicht, ob du bist, wer du behauptest zu sein. Jesus selbst blickt auf dem Gemälde herausfordernd und führt die Hand von Thomas fest umklammert nah an seine Wunde heran und in die Wunde hinein.

Unberührt von all dem erscheint Jesus. Voll Nachsicht für die Schwierigkeiten der Menschen auf ihrem Weg, ihm zu folgen. Er hat Thomas‘ Hand umfasst und führt sie selbst an seine Wunde. Wohlwissend, dass sich die unvergängliche Wahrheit seiner Lehre nur über seinen sterblichen Leib erschließt.

Thomas tastet nach dem Unbegreiflichen und tastet sich vor zu dem, was er dann gleich als Glauben aussprechen wird. „Du bist wahrhaftig der Lebendige, mein GOTT!“  Er kann es begreifen und greifen. „Ich fühle es, also kann ich es glauben!“ Und von Geburt an gilt bei uns Menschen: „Ich fühle, also bin ich!“ Ohne Tastsinn, fühlen, greifen und zugreifen, können wir nichts begreifen. Wir ertasten uns die Welt. Und bei der Thomasgeschichte zeigt es sich, dass wir mehr als nur unsere Ohren gebrauchen sollten, um zu glauben. Nur weil es uns jemand erzählt, muss ich es nicht für wahr halten. Nur weil ich es sehe, muss ich, darf ich es nicht für wahr halten. Ich kann die Augen verschließen vor dem, was ich nicht sehen will.

Ich kann mir die Ohren zuhalten und auch die Nase, wenn ich es nicht hören und nicht riechen will. Aber tasten und fühlen und spüren lässt sich nicht so einfach abdrehen. Ich kann es sehen und hören und trotzdem werde ich es nicht glauben, solange es nicht vor mir auftaucht und sich ertasten lässt.

Und wir sind heute so weit, dass wir alles hinterfragen müssen, was unseren Augen so geboten wird. Glauben wir nicht alles, was wir sehen. Glauben wir jedenfalls nicht alles, was wir lesen. Und glauben wir bitte nicht alles, was andere behaupten. „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht, eine Grundlage, dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“ (2 Korinther 5,7). Das klingt hingegen völlig anders. Und in diesem Sinne erklärt der spätantike Kirchenvater Tertullian: „Gottes Sohn ist gestorben: das ist glaubhaft, weil es eine Torheit ist. Er ist begraben und wieder auferstanden: das ist ganz sicher, weil es unmöglich ist.“ Gerade weil es unmöglich ist, mag es wahr sein.

Glaube ist der Boden, auf dem wir unser Vertrauen aufbauen. Und dazu braucht es uns als gesamte Menschen, mit unseren Erfahrungen und Erinnerungen und dem, was wir hören und sehen und riechen und tasten und fühlen und spüren und denken und hoffen und was wir lieben. Das ist ein klares Statement gegen virtuelle Welten, die in meinen Augen eine echte Bedrohung für unser Zusammenleben darstellen. Da sind wir aufs Sehen und Hören reduzierte Wesen. Das Riechen und Tasten wird dürftig bis gar nicht bedient und dadurch wird Realität reduziert und aufgelöst. Es geht immer um mehr als nur Sehen und Hören, wenn es um Fragen der Menschlichkeit geht. Was kann man heute, mit Photoshop, Deepfake, FakeNews, noch glauben? Und wohl wichtiger wird die Frage: Wem darf und kann ich heute noch glauben und vertrauen?

Auf dem Vertrauensindex hoch oben standen früher etwa Pfarrer und Pfarrerinnen – das ist vorbei, überhaupt nach den eingehenden Untersuchungen zu Übergriffen in kirchlichen Einrichtungen. Dann waren es lange Zeit Ärztinnen und medizinisches Personal, die auf dem Vertrauensindex hoch im Kurs standen. Das ist seit Corona erst einmal Geschichte. Wie sehr vertrauen Sie Politikerinnen und Politikern, Polizistinnen und Polizisten, Lehrpersonal …? Es hängt immer davon ab, welche Erfahrungen Sie mit der Berufsgruppe oder mit einzelnen Menschen gemacht haben.

Und für Thomas war eines klar: Wenn ihm die Jünger eine abenteuerliche Geschichte erzählten, war er erst einmal skeptisch. Und Skepsis ist ein wichtiger Zug, eine notwendige Sicherheitsbarriere – „Ich zweifle, also bin ich!“, „Denken heißt, Nein zu sagen!“ sind so philosophische Slogans, um das Denken anzufeuern und die Skepsis und Kritik zu untermauern. Für Thomas gab es nur einen, dem er voll vertrauen konnte. Wenn ihm Jesus persönlich etwas zusagt und sei es noch so unglaublich, kann er es überraschenderweise glauben. Er glaubt es ihm. Er kann gar nicht anders. Und vielleicht ist das die Magie und der Zauber, der rund um Jesus und andere Männer und Frauen und auch Kinder, lebendig wurde. Ihnen konnten Menschen vertrauen und glauben, weil sie nicht von sich allein aus sprachen, sondern von GOTT getrieben waren, das so zu sagen und so zu handeln. 

„Wem du die Sünden vergibst, dem sind sie vergeben!“ Jesus kann Thomas sogar diese hochmütige Aussage glauben. Thomas war in seinem Leben noch keinem Menschen wie Jesus begegnet. Zu Jesus hatte er volles Zutrauen. Er spürte und fühlte und wusste. Das kam alles in dieser einen Begegnung zusammen. Thomas erkennt Jesus an seinen Verletzungen und Wunden. Jesus ist kein unverwundbarer Held. Seine Menschlichkeit zeigt sich im Leid, der Einsamkeit, in Sterben und Tod, die er schmerzhaft erlebt hatte.

Sich den Glauben ertasten, ihn befühlen, spüren, erspüren, begreifen, betasten, angreifen. So schmeckt Glaube, so klingt, so riecht er. Und so fühlt es sich an zu glauben.

Amen

Gott,

wir denken an die vielen Menschen in Kriegsgebieten, in der Ukraine, im Jemen, in Gaza, im Sudan, in Myanmar und in Mexiko und an den vielen anderen Orten, wo gekämpft und getötet wird.

Gib Stärke, Weisheit und Einsicht allen, die Verantwortung tragen und lass sie Wege zum Frieden suchen und finden. Stärke in allen Menschen den Wunsch zu Frieden und Verständigung.

Gott, gib Hoffnung allen Menschen, die dort, wo sie leben, keine Perspektive mehr sehen. Wo sie sich auf den Weg der Suche nach einer besseren Zukunft machen, halte deine schützende Hand über ihnen und segne alle, die sich aufmachen, ihnen beizustehen.

Lass die Helferinnen und Helfer nicht mutlos und verzweifelt werden, wo der Gegenwind übermächtig wird.

Zeige dich ihnen, lass sie in den Menschen, die sie retten, Menschlichkeit erkennen und stärke sie, wo die Begegnung mit großem menschlichem Leid sie zu überwältigen droht.

Gott, wir denken an jene, die im Gefängnis sind und darauf hoffen, nicht vergessen zu werden, die alles in ihrem Leben auf einen Neuanfang setzen. Wir denken an jene, die unter Gewalt, unter Terror, unter Einschüchterung und Unterdrückung und Ausbeutung leiden. Lass sie und uns als Gesellschaft Wege finden, um ihnen beizustehen, sie zu stärken, das Trauma zu überwinden und wieder zu einem guten Leben zu finden.

Gott, bitte schenke uns, wo wir müde werden, neue Hoffnung und Kraft und zeige uns allen, dass du bei uns bist, dass niemand je ganz vergessen werden sollte.

AMEN