Johannes Langhoff:
Wer sieht da schon alt aus
Genesis 5, 1-32

Dies ist das Verzeichnis der Nachkommen Adams: Am Tag, da Gott den Menschen schuf, machte er ihn Gott ähnlich. Als Mann und Frau schuf er sie, und er segnete sie und nannte sie Mensch/Adam, am Tag, da sie geschaffen wurden.
Und als Adam 130 Jahre alt war, zeugte er einen Sohn, ihm ähnlich, der wie sein Bild war, und er nannte ihn Set. Und nachdem Adam Set gezeugt hatte, lebte er noch 800 Jahre und zeugte Söhne und Töchter. So betrug die ganze Zeit, die Adam durchlebte, 930 Jahre, dann starb er.
Und als Set 105 Jahre alt war, zeugte er Enosch. Und nachdem Set Enosch gezeugt hatte, lebte er noch 807 Jahre und zeugte Söhne und Töchter. So betrug Sets ganze Lebenszeit 912 Jahre, dann starb er.
Und als Enosch 90 Jahre alt war, zeugte er Kenan. Und nachdem Enosch Kenan gezeugt hatte, lebte er noch 815 Jahre und zeugte Söhne und Töchter. So betrug Enoschs ganze Lebenszeit 905 Jahre, dann starb er.
Und als Kenan 70 Jahre alt war, zeugte er Mahalalel. Und nachdem Kenan Mahalalel gezeugt hatte, lebte er noch 840 Jahre und zeugte Söhne und Töchter. So betrug Kenans ganze Lebenszeit 910 Jahre, dann starb er.
Und als Mahalalel 65 Jahre alt war, zeugte er Jered. Und nachdem Mahalalel Jered gezeugt hatte, lebte er noch 830 Jahre und zeugte Söhne und Töchter. So betrug Mahalalels ganze Lebenszeit 895 Jahre, dann starb er.
Und als Jered 162 Jahre alt war, zeugte er Henoch. Und nachdem Jered Henoch gezeugt hatte, lebte er noch 800 Jahre und zeugte Söhne und Töchter. So betrug Jereds ganze Lebenszeit 962 Jahre, dann starb er.
Und als Henoch 65 Jahre alt war, zeugte er Metuschelach. Und nachdem er Metuschelach gezeugt hatte, ging Henoch noch 300 Jahre mit Gott, und er zeugte Söhne und Töchter. So betrug Henochs ganze Lebenszeit 365 Jahre. Und Henoch lebte mit Gott. Dann war er nicht mehr da, denn Gott hatte ihn hinweggenommen.
Und als Metuschelach 187 Jahre alt war, zeugte er Lamech. Und nachdem Metuschelach Lamech gezeugt hatte, lebte er noch 782 Jahre und zeugte Söhne und Töchter. So betrug Metuschelachs ganze Lebenszeit 969 Jahre, dann starb er.
Und als Lamech 182 Jahre alt war, zeugte er einen Sohn; und er nannte ihn Noah, indem er sprach: Dieser wird uns Trost bringen in unserer Arbeit und in der Mühsal unserer Hände durch den Ackerboden, den der Herr verflucht hat. Und nachdem Lamech Noah gezeugt hatte, lebte er noch 595 Jahre und zeugte Söhne und Töchter. So betrug Lamechs ganze Lebenszeit 777 Jahre, dann starb er.
Und als Noah fünfhundert Jahre alt war, zeugte er Sem, Ham und Jafet.

Genesis 5, 1-32

Liebe Gemeinde!

Altersbedingt steige ich nicht mehr so oft auf die Kanzel. Dagegen bin ich bei den Bläsern noch ziemlich regelmäßig dabei. Ein Bläserchor ist ideal für Jung und Alt, für Könner und Dilettanten. Der eine oder andere Misston, der sich einschleichen könnte, wird schlicht ausgelassen, ohne dass es die Harmonie stört. Dagegen habe ich mich mit Soloinstrumenten schwerer getan. Beim Klavierspielen bin ich nur bis zum „Fröhlichen Landmann“ gekommen. Dann waren mir das einfach zu viele Noten und Töne gleichzeitig. Nun ja, ich war auch einigermaßen schleißig mit dem Üben. Dennoch – kann ich sagen – würde ich mir zutrauen, ein Meisterwerk der Musikgeschichte aufzuführen. Eine dreisätzige Sonate von John Cage aus dem Jahr 1952 – meinem Geburtsjahr. 1. Satz „Tacet“. 2. Satz „Tacet“. 3. Satz „Tacet“. Der Künstler setzt sich für 4 ½ Minuten an den Flügel und spielt keinen einzigen Ton – Tacet/Schweigen. 4‘33“ heißt das Opus. Nach besagten 4 ½ Minuten erhebt sich der Solist und nimmt Buhrufe oder Applaus entgegen. Könnte ich mir zutrauen. Allerdings ist mir John Cage wegen einer anderen extravaganten und außerordentlichen Komposition in den Sinn gekommen. Sein Orgelstück “ORGAN2/ASLSP” – As SLow aS Possible [So langsam wie möglich]. Die Aufführung dieses Stückes nimmt sage und schreibe 639 Jahre in Anspruch. In der aufgelassenen Halberstädter Buchardikirche erklingt dieses Werk seit dem 5. September 2001 und wird erst im Jahre 2640 mit dem letzten Ton verklingen. Kein Mensch wird dieses Orgelstück jemals vollständig hören können. Allerdings pilgern viele Leute nach Halberstadt, um sich diesem Phänomen auszusetzen, das gerade am vergangenen Montag seinen nächsten Ton angeschlagen hat. Staunen und sinnieren oder philosophieren über die Lebensdauer.

Damit habe ich den Bogen zu meinem Predigttext gefunden. Allerdings muss ich zugeben, dass mich nicht John Cage zu Genesis 5 gebracht hat, eher umgekehrt. Es war eine Schülerin aus dem Religionsunterricht bei mir. Mein eigenständiger Lehrplan bestand darin, in den – wenn es gut ging und die Jugendlichen dabeiblieben -, in den 8 Unterrichtsjahren die Bibel von der Genesis bis zur Offenbarung durchzulesen. Nicht jeden Vers und jede Geschichte. Aber doch ziemlich umfassend. Denn die biblischen Texte haben in jeder Stunde zu munteren Gesprächen über Gott und die Welt geführt, sprich zu dem, was die Kinder berührte und bewegte. Ein Kollege hat eine ausführliche Studie über das Lesen der Psalmen mit Kindern veröffentlicht. Entgegen den entwicklungspsychologischen Einwänden, man könne Kinder nicht den heftigen Bildern in diesen Texten aussetzen, hat er die Erfahrung gemacht, dass die Bilder (reißende Ströme, zähnefletschende Hunde, Burg und Festung, Regenbogen und Naturidylle), dass gerade diese Bilder die Kinder angeregt haben, von ihren eigenen Ängsten, Träumen und Sehnsüchten zu sprechen.

Und das ist mir mit dem Kapitel 5 passiert. Von der Geschichte um Kain und Abel wollte ich gleich auf das übernächste Kapitel springen, als mich eine Schülerin aufhielt und darauf bestand, dass wir den Text doch auch lesen müssten. Wer bin ich, dass ich die Wissbegier aufhalten würde. Also brav gelesen reihum und in der Monotonie, die sie eben selbst anhören durften. Kaum war der Satz um Noah und seine drei Söhne zu Ende, sprang sie an die Tafel und bestand darauf, uns jetzt ihren Stammbaum vorzustellen. Na das war eine heftige Partie. Eine hybride Patchwork-Familie. Drei Frauen und drei Männer hatten in all den möglichen Zusammenführungen was miteinander, hatten Kinder miteinander. Die meisten demnach Halbgeschwister bzw. Geschwister dieser Halbgeschwister und eben auch einige Geschwister gemeinsamer Eltern. Ein großer bunter Haufen, von dem sie sogar einen der Halbbrüder erst an diesem Gymnasium kennenlernte. Ansonsten wusste sie von herrlichen Erlebnissen mit den vielen Verwandten und ihren Vorfahren zu erzählen aus dem fernen Kaukasus bis nach Nordamerika und Schwarzafrika. Entgegen jeder Erfahrung mit Scheidungskindern war sie offensichtlich glücklich mit dem Reichtum an unterschiedlichen Beziehungen.

Irgendwann konnten wir sie schließlich einbremsen und die anderen drängten sich vor, ihren Stammbaum an die Tafel zu bringen. Österreich pur. Verwandte und Vorfahren über den Kontinent und insbesondere die Nachbar- und einstigen Kronländern verstreut. Wie sie die Besuche hier und da, die Geschichten und Erzählungen aus der Familie genießen. Dafür haben wir mehr als eine Unterrichtsstunde gebraucht und das hat mich gelehrt, den Wert eines solchen, eher trockenen Bibeltextes zu entdecken. Als Predigttext wird er nirgendwo angeboten. Außer dem 1. Vers und dem einen oder anderen Namen an anderer Stelle könnte das Kapitel nur bei einer Predigtreihe in fortlaufender Lesung auftauchen. Aber irgendwann wollte ich es denn schon und in der Pension bietet sich mir die Gelegenheit, um nicht zu sagen mit dem eigenen fortgeschrittenen Alter.

Für das Judentum ist es ein wesentlicher Teil der Geschichte des Volkes Gottes. Aber das ist nicht die einzige Funktion dieses Abschnitts der Heiligen Schrift. Immerhin gibt es über das Judentum hinaus gar nicht so wenige Leute, die eine Ahnung von diesem 5. Kapitel der Bibel haben und dessentwegen Fragen stellen. Glaubensfragen bzw. Glaubwürdigkeitsfragen nach der Offenbarung des Gotteswortes. Was hat es mit diesen Zahlen auf sich, die eine Jahr­hunderte anhaltende jeweilige Lebensspanne benennen? Ist das überhaupt denkbar, dass ein Leben so lange dauern kann?

Eine Frage an die Biologie. Ich weiß von alten Bäumen. Früher haben wir gerne einen Ausflug zu den tausendjährigen Eichen von Ivenack in Mecklenburg gemacht. Auch ist mir bekannt, dass beispielsweise Olivenbäume ein außerordentliches und noch fruchtbares Alter über Jahrhunderte erreichen können. In der Tierwelt geht die Kunde vom Eishai um. Der auch so genannte Grönlandhai wird nach allgemeiner Ansicht gut 500 Jahre alt. Einige Biologen und Historiker finden Spuren für weitere mehrere Jahrhunderte, die ein solches Tier leben oder gelebt haben soll.

Bleibt die spannendste Frage nach uns Menschen. Da erleben wir gerade eine Phase – oder muss man schon Epoche sagen – in der wir uns von den bisher üblichen zweistelligen Zahlen für das Lebensalter verabschieden und zunehmend im dreistelligen Bereich bewegen. Der Generation Z, den Kindern der Nullerjahre, wird eine Lebenserwartung von 100 Jahren bescheinigt. Tatsächlich haben wir vor gut 20 Jahren einen Ruck von fast 10 Jahren in den Biographien erlebt. Taufen und Trauungen wie auch Beerdigungen waren über Jahre deutlich geringer. Spätere Geburten und höheres Sterbealter. Das älteste Gemeindeglied haben wir in ihrem 110. Jahr beerdigt. Derzeit haben wir 4 Gemeindeglieder über 100 Jahre und 54 in den 90ern. Israëlische Untersuchungen an Nomaden im Süden des Landes haben ergeben, dass diese nicht nur durchschnittlich ein höheres Alter erreichen würden, sondern deutlich weniger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden, dem Killer Nummer 1 der Zivilisation.

Aber – schon wahr – die Kandidaten von Kapitel 5 zählen in mehreren Jahrhunderten. Da hat es die orientalische Erzählfreude vielleicht doch ein bisschen übertrieben. Da sind ihnen im Stolz auf die Vorfahren die Pferde durchgegangen. Tatsächlich verrät der Text einige Stilisierungen, die den kreativen Umgang mit den Daten offenbaren. Denn die Zahlen sprechen teilweise für sich selbst.

Fange ich mit dem Jüngsten in der Runde an. Ihm werden bloße 365 Jahre Lebenszeit zugeschrieben. Eine Zahl, die uns auf Anhieb etwas sagt. Und obwohl der jüdische Kalender anders als der unsere zählt, ist ihnen die Jahresspanne des Sonnenkalenders vertraut. Das haben sie in ihrer Zeit in Babylon kennengelernt. Also 365 Tage sind ein Jahr. Die Quantität springt in eine neue Qualität um. Dann sind wohl die 365 Jahre auch eine neue Einheit, eine neue Qualität. Wie da steht: „Henoch ging mit Gott…Henoch lebte mit Gott“. Und darauf der verblüffende Satz: Dann war er nicht mehr da, denn Gott hatte ihn hinweggenommen.“ Bei Henoch fehlt der Schlusssatz, der für alle anderen vermerkt ist: „dann starb er.“ – Dass auch Noahs Tod im Schlussvers nicht verzeichnet ist, liegt allein daran, dass dessen weitere Lebensgeschichte in den folgenden Kapiteln noch ausführ­lich weitererzählt wird. – Henoch ist eine der beiden biblischen Figuren, von denen kein Sterben und kein Tod vermerkt ist. Beide werden von Gott hinweggenommen, entrückt. Der andere ist der sagenhafte Prophet Elia. Beide – Henoch und Elia – spielen infolgedessen eine entscheidende Rolle in der Endzeiterwartung.

Eine weitere für sich sprechende Zahl ist die Lebensalterszeit von Lamech mit 777 Jahren. Eine verdächtig „runde“ Zahl, die gleich an die Überlieferung eines anderen Lamech erinnert, nämlich im vorangegangenen 4. Kapitel. Dort werden die Nachfahren von Kain aufgelistet, der ebenfalls einen Sohn namens Henoch hatte und dann einen Urururenkel Lamech. Von diesem ist ein Liedchen oder Sinngedicht an seine Frauen Ada und Zilla überliefert, das mit dem Fluch endet: „Siebenfach wird Kain gerächt. Lamech aber siebenundsiebzigfach.” (Gen. 4,24)

Der Lamech aus der Familie des dritten Sohnes von Eva und Adam, nämlich Set, gewinnt dagegen wohl mit den 777 eine segensreiche Größe, die nicht zuletzt mit der Zahl des heiligen Sabbath spielt. Letztendlich hat Jesus den Fluch Lamechs auf den Kopf gestellt und in Segen verwandelt in der Antwort auf die Frage, wie oft man vergeben müsse: „nicht bis zu siebenmal, sondern bis zu siebenundsiebzigmal.“ (Matthäus 18,22)

 Bevor ich jetzt in die Erbsenzählerei verfalle, noch ein Name und ein Alter. Metuschelach, auch bekannt als Methusalem wie er sprichwörtlich geworden ist. Diesem Sohn des gesegneten Henoch wurde eine Lebensdauer von 969 vergönnt, die längste in der Liste. Mit der in unserem Schriftbild eigen verschränkten Optik, die beinahe schon an die liegende 8 als Zeichen der Unendlichkeit erinnert. Jedenfalls wird mit der Obergrenze signalisiert, dass der nächste Qualitätssprung mit Erreichen der 1.000 nicht stattfindet. Da fängt die Ewigkeit an, die in der hebräischen Sprache für die nicht endende, nicht mehr erfassbare und absehbare Zeit steht.

Damit habe ich bereits wiederholt das Stichwort angeschnitten, das sich mir als eine Botschaft dieses Stammbaums anbietet: das gesegnete Alter. Der Segen Gottes, der sich uns mitteilt in der Wahrnehmung der gestiegenen Alterserwartung. Oder wie die vor wenigen Tagen im Alter von 100 Jahren verstorbene Schriftstellerin Ilse Helbich sagt: „Das Alter ist pure Gegenwart“. Wozu natürlich gehört, dass das Alter sich inzwischen deutlich von dem unterscheidet, was es in meiner Jugendzeit noch bedeutete. Mit 60 und 70 Jahren langsam dem Verfall hingegeben. Gesunde Ernährung und ein leistungsstarkes Gesundheitswesen. Wenn ich dazu den Blick auf mich selbst und meine direkte Umwelt richte, statt mir von den Medien täglich ein Schreckensszenario einzuholen, dann kann ich in Dankbarkeit schwelgen und mich von dem schwärmenden Listenführer anstecken lassen. So viele Jahre aus Gottes Hand.

Amen.